Der neue deutsche Reformstau

Unternehmen und Ökonomen beklagen, dass Deutschland angesichts seines Booms notwendige Reformen verschlafe

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Von Hannes Koch

17. Sep. 2013 –

Ist Deutschland zu lahm? Hat die Bundesregierung und die Politik insgesamt die Augen vor drängenden Herausforderungen verschlossen? Reformstau – lange Zeit war dieser Begriff aus der politischen Debatte verschwunden. Nun kommt er wieder.

 

Die amerikanische Handelskammer, die in Deutschland tätige US-Unternehmen vertritt, mahnt wirtschaftspolitische Reformen an. Und die britische Zeitschrift Economist schreibt, kein Land in Europa habe in den vergangenen Jahren „weniger strukturelle Reformen angepackt“ als Deutschland. Welche Punkte sprechen die Kritiker an – und was ist davon zu halten?

 

Energie

Unbestritten sind die Strompreise in Deutschland sehr hoch. Zahlen des europäischen Statistikamtes zufolge bezahlten 2012 beispielsweise Privathaushalte, die zwischen 1.000 und 2.500 Kilowattstunden Strom jährlich verbrauchten, den zweithöchsten Preis der gesamten EU: rund 29 Cent pro kWh. Nur Dänemark lag mit 33 Cent noch darüber. Im vergleichbaren Staaten liegen die Bruttopreise um teilweise zehn Cent oder mehr unter dem deutschen Niveau. Warum? Deutschland leistet sich die Energiewende, die mit etwa sechs Cent pro Kilowattstunde zu Buche schlägt. Hinzu kommen hohe Steuern, die der Staat beansprucht. Aber auch die Energieproduzenten und Versorger tragen zum hohen Preis bei. Sie geben den niedrigen Börsenpreis für Strom nur unzureichend an die Verbraucher weiter. Die Bundesregierung hat mehrere Versuche unternommen, die Energiewende kostengünstiger zu gestalten, wurde dabei aber teilweise von der Opposition und den Bundesländern blockiert.

Fazit: Kritik berechtigt

 

Zuwanderung

Die Amerikanische Handelskammer bemängelt, dass Deutschland ausländische Fachkräfte mit hohen Hürden davon abhalte, sich hierzulande niederzulassen. Dies erschwere es den Unternehmen, Arbeitskräfte zu rekrutieren. Allerdings hat die Bundesregierung ihre Zuwanderungspolitik in den vergangenen Jahren liberalisiert. Beispielsweise wirbt die Bundesagentur für Arbeit gezielt um ausländische Beschäftigte mit medizinischen und technischen Ausbildungen. Gleichzeitig kommen so viele Menschen aus den südeuropäischen Krisenländern nach Deutschland wie schon lange nicht mehr. Der zu erwartende Rückgang der Zahl einheimischer Arbeitskräfte wird dadurch in den kommenden Jahren vermutlich aber nicht ausgeglichen.

Fazit: Kritik teilweise berechtigt

 

Bildung

Der deutsche Staat gibt wesentlich weniger Geld für die vorschulische Bildung von Kindern und für die Grundschulen aus als andere Staaten. Nach Information von Eurostat liegt der entsprechende Anteil hierzulande bei gut einem Prozent der Wirtschaftsleistung. Zum Vergleich: In Dänemark sind es vier Prozent, in den Niederlanden zwei und in Frankreich 1,7 Prozent. Die Industrieländer-Organisation OECD rät Deutschland deshalb, Ausgaben und Qualität im Bildungssystem zu steigern. Nur so könne mehr Menschen der soziale Aufstieg ermöglicht und der Wirtschaft genug gut ausgebildetes Personal zur Verfügung gestellt werden.

Fazit: Kritik berechtigt

 

Investitionen

Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) argumentiert, Deutschland gebe jährlich etwa 75 Milliarden Euro zu wenig aus, um den Wert und die Funktionsfähigkeit seiner Infrastruktur zu erhalten. Straßen, Bahnlinien, Stromtrassen und Datenleitungen seien in einem teilweise so schlechten Zustand, dass dies die wirtschaftliche Entwicklung behindere. Ein Beispiel: In vielen ländlichen Regionen Deutschlands ist das Internet extrem langsam. Dort ansässige Firmen haben Nachteile.

Fazit: Kritik berechtigt

 

Arbeitsmarkt

Die Amerikanische Handelskammer mahnt an, der deutsche Arbeitsmarkt müsse flexibler werden. Wenn die Unternehmen Beschäftigte kurzfristiger einstellen und besser kündigen könnten, sparte dies Kosten. Dagegen spricht, dass die deutsche Wirtschaft augenblicklich sehr konkurrenzfähig ist und Exporterfolge feiert. Dies deutet daraufhin, dass die Arbeitskosten hierzulande nicht zu hoch liegen.

Fazit: Kritik unberechtigt

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