Deutschland lebt von der Substanz

Forscher bemängeln Investitionsschwäche und fordern bis zu 80 Milliarden Euro jährlich für die Infrastruktur

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Von Wolfgang Mulke

24. Jun. 2013 –

Wenn Staatsgäste vom Kanzleramt zum Schloss Bellevue gefahren werden, teilten sie lange das Schicksal von Millionen Autofahrern. Die Limousinen rumpelten über Schlaglöcher auf der maroden Verbindungsstraße zwischen beiden Amtssitzen. Zwischenzeitlich haben Bautrupps den Asphalt zwar teilweise erneuert. Doch die erste tiefen Risse tun sich schon wieder auf. Es ist wie überall in Deutschland. Flickwerk an der oft maroden Infrastruktur ersetzt deren Erhalt und Pflege.


Vielerorts lebt der Wirtschaftsriese Bundesrepublik auf Kosten seiner Substanz. Diese Beobachtung hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu einer umfangreichen Studie mit erschreckendem Ergebnis veranlasst. Durch fehlende Investitionen in die Infrastruktur, in Straßen, Schienenwege, Schulen oder Netze verliert das Volksvermögen seinen Wert. Für 1999 stellt das Institut noch einen Wert von rund 500 Milliarden Euro fest. „Das Nettovermögen ist heute praktisch auf Null gesunken“, sagt DIW-Chef Marcel Fratzscher.


Kaum ein wichtiges Industrieland investiert den Forscher zufolge weniger in seine Zukunft als Deutschland. Gerade einmal 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung steckt der Staat in die Zukunftsvorsorge. Der Durchschnittswert im Euroraum liegt bei 2,3 Prozent. Bei den privaten Ausgaben sieht es nicht besser aus. Deutsche Firmen und Privatanleger haben laut DIW in den letzten 15 Jahren 400 Milliarden Euro im Ausland verpulvert, obwohl das Geld im Heimatland mehr Rendite eingebracht hätte. Zu den Verlierern gehören große Konzern wie Daimler, das viel Geld mit dem Aufbau einer Welt AG verbrannt hat, oder jene Sparer, die ihre Euro mit spekulativen Immobilieninvestments rund um den Erdball verloren haben.


Hierzulande fehlen die Investitionen an allen Ecken und Enden. „In Deutschland werden 75 bis 80 Milliarden Euro weniger investiert als nötig“, sagt Fratzscher – pro Jahr. Die Wissenschaftler fordern nun einen Schwenk hin zu einer Investitionsoffensive. Das Geld dafür ist den Forschern zufolge vorhanden. In den nächsten Jahren erwarten die Fachleute einen Haushaltsüberschuss von fast 30 Milliarden Euro jährlich. Zusammen mit privaten Investitionen könnten die gröbsten Fehlentwicklungen gestoppt und ein um mehr als die Hälfte höheres Wirtschaftswachstum erzeugt werden.


An drei Beispielen zeigt die Studie den Bedarf. Bei den Verkehrsinvestitionen haben die Forscher allein für den Erhalt der Wege einen zusätzlichen Investitionsbedarf von 6,4 Milliarden Euro jährlich errechnet. Um Engpässe zu beseitigen sind noch einmal 3,6 Milliarden Euro nötig. Die Verkehrsexpertin des DIW fordert ein Gesamtkonzept von Bund, Ländern und Kommunen zur Finanzierung der Aufgabe. Das gibt es bislang nicht.


Den größten Bedarf sieht das Institut bei der Energiewende. Bis zu 19 Milliarden Euro kostet der Ausbau der Erneuerbaren Energien im Jahr. Weitere sechs Milliarden Euro werden für Übertragungs- und Verteilnetze benötigt. Dazu kommen noch einmal 13 Milliarden Euro, damit genügend Altbauten energetisch saniert werden können. Damit es zu diesen überwiegend privaten Investitionen kommen kann, muss die gesetzliche Förderung der Ökoenergien festgeschrieben werden. Bezahlen müssen dafür am Ende die Verbraucher über den Strompreis. Hier schlägt der DIW-Klimaexperte Karsten Neuhoff längere Abschreibungsfristen für die Unternehmen vor. Damit würde sich die Belastung der Kunden auf viele Jahre verteilen.


Schließlich sieht das DIW in Bildungseinrichtungen Bedarf an Investitionen. Vor allem eine bessere Betreuung der Kleinkinder sei ökonomisch sinnvoll. „Es ist dringend an der Zeit, dass Deutschland die Investitionsschwäche angeht“, stellen die Forscher fest. Damit werde auch der beste Beitrag dafür geleistet, den europäischen Nachbarn wieder auf die Beine zu helfen.






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