Die Blockade lässt sich lösen
Kommentar zum Ausbau des Stromnetzes von Hannes Koch
29. Mai. 2012 –
Deutschland ist ein blockiertes Land, so scheint es. Kaum wird irgendein größeres Vorhaben geplant oder gebaut, stehen zehntausende Bürger auf, gründen Initiativen, klagen und verzögern. Bahnhof Stuttgart 21, Flughafen Berlin, neuerdings der Bau von Stromleitungen für die Energiewende: Die Anliegen der einzelnen Anwohner und die Interessen der durch Politiker und Planer vertretenen Allgemeinheit scheinen immer seltener zu korrespondieren. Interessanterweise aber könnte sich dieser Gegensatz gerade beim umstrittenen Netzausbau verringern.
In den vergangenen Jahren ist bei der Modernisierung des Stromnetzes tatsächlich nicht viel passiert. Dutzende Protestgruppen haben sich beispielsweise entlang einer geplanten Hochspannungsleitung gegründet, die Nordsee-Windstrom durch Niedersachsen und Hessen nach Süden befördern soll. Die Bürger bringen den Institutionen nicht mehr prinzipielles Vertrauen, sondern gewachsenes Misstrauen und Selbstbehauptungswillen entgegen. Aber nicht nur dies verzögert Planung und Bau - Kompetenzwirrwarr und Unstimmigkeiten zwischen einzelnen Verwaltungen kommen hinzu.
Beilegen lassen sich die daraus entstehenden Konflikte nur mit zwei Mitteln. Einerseits ist es ratsam, überregionale Planungsverfahren zu vereinfachen und zu zentralisieren. Damit die Bürger sich dann aber nicht übergangen fühlen und noch stärkeren Widerstand leisten, muss die Politik sie ernster nehmen. Deshalb bedarf es besserer Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung – besonders in einer Hinsicht: der Sinnfrage. Bislang werden die Anwohner einer Autobahn oder Stromtrasse erst einbezogen, wenn es um die Rechts- und Linkskurven geht. Über den grundsätzlichen Bedarf für große Infrastrukturprojekte entscheiden Politik und Verwaltung alleine. Das lassen sich jedoch die Bürger eines modernen Landes, das auf eine 50jährige Geschichte politischer Protestbewegungen zurückblickt, nicht mehr bieten.
Zum Glück hat die Bundesregierung genau dies gespürt, als sie 2011 das Energiewirtschaftsgesetz renovierte und das neue Gesetz zum beschleunigten Netzausbau auf den Weg brachte. Beide bieten den Bürgern nun gewisse Möglichkeiten, auch über die Sinnfrage mitzudiskutieren, sprich den Bedarf für neue Leitungen. Gewiss: Die Gesetze sind neu. Wie man sie umsetzt, wird erst die Zukunft zeigen. Grundsätzlich aber könnte der Netzausbau zum Muster dafür werden, wie Bürger und Staat wieder etwas näher zueinander finden.
Eine größere Akzeptanz unter der Bevölkerung scheint realistisch. Trotzdem werden sich nicht alle Gegner besänftigen lassen. Aber der Konflikt um den Stuttgarter Bahnhof zeigt doch, dass die Zahl der auf massive Ablehnung gepolten Bürger abnimmt, wenn das Niveau der Partizipation steigt. Es besteht die Hoffnung, dass Partikular- und Allgemeininteressen sich eher zur Deckung bringen lassen und sinnvolle Großprojekte auch künftig möglich bleiben.