• Der Omnibus in Jena |Foto: Koch

Die das Risiko wählen

Sieben junge Leute wollen, dass die Demokratie wieder rockt. Mit ihrem weißen Omnibus fahren sie vor der Bundestagswahl durch Deutschland und fordern bundesweite Volksabstimmungen. Auch wenn die AfD das Gleiche will.

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Von Hannes Koch

20. Sep. 2017 –

Dies ist eine Einladung zu politischer Fantasie. „Worüber willst Du abstimmen?“, steht oben auf dem großen Plakat. Darunter können alle BesucherInnen ihre Wünsche für eine bundesweite Volksabstimmung notieren. „Sollte der öffentliche Nahverkehr kostenlos sein?“, schreibt eine Frau. 20 weitere Passanten malen im Laufe des Tages Striche für ihre Zustimmung dahinter. Soll es ein Recht auf bezahlte Arbeit geben?, lautet ein anderes Anliegen. Zehn Leute finden das richtig. Fünf wollen darüber abstimmen, ob die Regierung Freihandelsabkommen abschließen darf.

Der Trick der Aktion: Indem man seinen Wunsch aufschreibt, wird klar, dass er nicht in Erfüllung geht. „Darauf wollen wir aufmerksam machen“, sagt Kilian Wiest: „Bundesweite Volksentscheide gibt es in Deutschland nicht.“


Wiest und seine sechs MitstreiterInnen sind die Nachwuchsgruppe einer ziemlich alten Truppe. Der Künstler Joseph Beuys gab einen ersten Impuls 1971. Seit 1987 fahren Aktivisten mit dem Omnibus für Direkte Demokratie, einem umgebauten Doppeldecker, durch die Lande, um für ihr Anliegen, die Einführung bundesweiter Volksabstimmungen zu werben – einem System so ähnlich wie in der Schweiz. Jetzt, vor der Bundestagswahl stehen sie wieder auf den Marktplätzen, damit sich nach der Wahl mal was ändert.


Der 24-jährige Wiest, Hut, Ohrring, studiert Kunst, Philosophie und Gesellschaftswissenschaften an der Alanus-Hochschule bei Bonn. Er ist der Organisator dieser rollenden Wohngemeinschaft. Im unteren Stockwerk gibt es eine Küche mit Gasherd und Kühlschränken. Oben schlafen die sieben Leute auf Matratzen. Bei aufgezogenem Faltdach kann man auch wunderbar Party feiern.


Macht der Bus Station, wie jetzt in der Fußgängerzone von Jena, schwärmt die Besatzung nicht aus, um im Stile klassischen Wahlkampfs Flugblätter zu verteilen. Man wartet, dass die Leute von selbst kommen. Und sie kommen tatsächlich. Die Einladung steht in großen Buchstaben draußen dran: „Für alle, durch alle, mit allen“. Ein Versprechen der Offenheit. Es wirkt anziehend.


„Demokratie? Kannste ja wohl vergessen“, lässt sich die mittelalte Dame im Vorbeischlendern vernehmen. „Würden Sie denn gerne mehr mitreden?“, hakt Simone Jahnkow vom Omnibus ein. „Ja, sicher,“ sagt die Besucherin mit rotem Halstuch und blonden Haaren. Und worüber? „Manchmal bin ich morgens die einzige Deutsche in der Straßenbahn. Eine Begrenzung der Zuwanderung würde ich befürworten.“


Will man, dass sich solche Haltungen auch noch in Volksabstimmungen ausdrücken? Reicht es nicht, dass die AfD sie demnächst massiv im Bundestag vertreten wird?


Für Wiest ist das keine Frage. „Es steht auch im Grundgesetz“, sagt er. Tatsächlich heißt es in Artikel 20: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Nur umgesetzt ist die Sache mit den Abstimmungen bis heute nicht – jedenfalls nicht auf Bundesebene. SPD, Grüne und Linke haben zwar schon mehrmals Gesetzentwürfe eingebracht, doch sie scheiterten, weil die Union sich der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit verweigerte.


Auf Stadt- und Landesebene wurde die repräsentative Demokratie dagegen schon ergänzt. 2011 fand beispielsweise eine Volksabstimmung über den Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 statt, in einem Referendum 2015 sagten die HamburgerInnen Nein zu den Olympischen Spielen in ihrer Stadt, und demnächst stimmen die BerlinerInnen über die Offenhaltung des Flughafens Tegel ab. Laut einer Umfrage durch Infratest Dimap sind 72 Prozent der BundesbürgerInnen dafür, ein solches Verfahren auch bundesweit in Kraft zu setzen.


Ein 68-Jähriger mit Basecap und Jeansjacke findet das ebenfalls gut. Er ist nicht doof. „Ich bin national eingestellt,“ sagt er dennoch. Eine Frau mit Kopftuch geht vorbei. „Da, sehen Sie!“ Er beginnt sich aufzuregen über zu viele Burkas im deutschen Straßenbild. Kandidierte hier in Thüringen die CSU, würde er die wählen. Ohne diese Möglichkeit geht er morgen mal zur AfD-Kundgebung. Eine niedrige Obergrenze für Einwanderung befürwortet auch er.


Omnibus-Organisator Wiest ist nicht rechts. Als links definiert er sich allerdings auch nicht. Das Grundgesetz findet er im Prinzip „gut“. Zentral ist für ihn, was er als „Haltung“ beschreibt: demokratisch. Das beinhaltet für ihn „Offenheit“, Ernstnehmen jedes Bürgers mit seiner politischen Meinung. Es ermöglicht ihm auch mit Leuten zu reden, deren Positionen er nicht teilt.


Die CSU schreibt in ihrem aktuellen Programm: „Wir wollen in wichtigen politischen Fragen bundesweite Volksentscheide einführen.“ Um was durchzusetzen? „Die seit langem geforderte Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr für Deutschland ist notwendig.“ Die AfD fordert „Volksentscheide nach Schweizer Vorbild auch für Deutschland“. Als Ziel wird genannt „dem Beispiel Großbritanniens zu folgen und aus der bestehenden EU auszutreten“.


Dexit nach dem Brexit? Europa auf den Müll, zurück zum Nationalstaat? Herr Wiest, wollen Sie das wirklich riskieren?


„Demokratie ist gefährlich“, sagt Wiest, „sie beinhaltet immer ein Risiko.“


Nun kann man die Frage stellen, wie groß dieses Risiko werden darf. Man muss ja nicht dabei zusehen, wie autoritäre, illiberale Politiker die Demokratie mit demokratischen Mitteln beseitigen, die Durchsetzung der Menschenrechte verhindern und die Völkerverständigung unterminieren. Neue Mittel wie eine bundesweite Volksabstimmung, um diese Ziele zu erreichen, sollte man den Rechten gerade jetzt vielleicht nicht in die Hand geben.


„Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Bürger in einer bundesweiten Volksabstimmung die Grundrechte beschneiden würde“, sagt Wiest. Er meint, dass eine bis zu zweijährige Beratungsphase vor der Abstimmung genug Zeit biete, um die BürgerInnen solide zu informieren, Argumente zu bearbeiten, Meinungen zu ändern und dann einen vernünftigen Beschluss zu fassen. „Das hoffe ich zumindest“, so Wiest. Und falls eine Entscheidung sich als schlecht herausstelle, könne man sie durch eine weitere Abstimmung ja revidieren.


In bundesweiten Plebisziten sieht er eine Möglichkeit, Leute zurückzuholen, die schon mit einem Bein oder komplett draußen stehen. So will er das System stabilisieren - angesichts der zunehmenden Kritik, der Verschwörungstheorien, des Hasses in den sozialen Netzwerken. Wenn die Demokratie überleben will, muss sie demokratischer werden.


Trotz dieses grundsätzlichen, hoffnungsvollen Vertrauens in das Gute im modernen Staatsbürger befürwortet Wiest aber auch einige Sicherheitsvorkehrungen. Die Grundrechte in den ersten 20 Grundgesetzartikeln dürften sowieso nicht geändert werden. Man könne zudem über ein Zweidrittel-Quorum für fundamentale Entscheidungen nachdenken. Ein deutscher EU-Ausstieg mit 50,5 Prozent der Stimmen wäre dann nicht möglich, man bräuchte 66 Prozent – eine nur schwer zunehmende Hürde. Außerdem schlagen die Omnibus-Leute vor, dass das Bundesverfassungsgericht jedes Plebiszit überprüfen und stoppen kann. Mehr Demokratie ja – aber nicht absolut.


Johannes Selle, schwarzer Nadelstreifenanzug, blaue Krawatte, weiße Haare, bleibt trotzdem skeptisch. Der Direktkandidat der CDU in Jena und Umgebung schaut zu einer Kurzdebatte beim Omnibus vorbei. „Sie sehen beim Brexit, wohin solche Experimente führen können“, sagt Selle, „wir müssen vorsichtig sein.“ Interessanterweise will er sich der Debatte aber „nicht komplett verweigern“. Auch mit Blick auf die Initiative der CSU zur Volksabstimmung prognostiziert er für die kommende Legislaturperiode: „Das bürgerliche Lager wird sich öffnen.“


Kasten

Drei Schritte zum Glück

Der Omnibus stellt sich das Verfahren so vor: Für einen Gesetzentwurf aus der Bevölkerung muss man im ersten Schritt, der Volksinitiative, 100.000 Unterschriften sammeln. Bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit kann die Bundesregierung oder ein Drittel des Bundestages das Verfassungsgericht anrufen. Der Bundestag entscheidet über die Volksinitiative. Lehnt er sie ab, folgt der zweite Schritt, das Volksbegehren. 1,5 Millionen Unterschriften sind nötig. Über den Gesetzentwurf des Volksbegehrens und einen Alternativvorschlag des Bundestages findet der Volksentscheid statt. Alle Staatsbürgerinnen dürfen abstimmen. Die einfache Mehrheit entscheidet. Bei verfassungsändernden Volksentscheiden ist außerdem eine Mehrheit in jedem Bundesland nötig.

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