Die Hauptstadt hat das Tal der Tränen verlassen

Berlin boomt seit einigen Jahren. Die vielen neuen Arbeitsplätze besetzen aber vor allem Zugereiste. Die sozialen Probleme nehmen daher nur langsam ab.

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Von Wolfgang Mulke

12. Apr. 2016 –

Behäbig fließt die Spree vorbei an Bundestag und Kanzleramt zum Berliner Hauptbahnhof. Unter den Brückenbögen an einem Teilstück des Ufers steht Zelt an Zelt. Nur ein paar Steinwürfe entfernt von der Regierungszentrale werden Spaziergänger mit den Elendsseiten der Hauptstadt konfrontiert. Obdachlose richten sich an vielen wind- und regengeschützten Stellen mitunter nahezu häuslich ein. Am Horizont zeigt sich das andere Berlin. In der Ferne ragt am Zoo in der westlichen City der 150 Meter hohe Rohbau eines neues Geschäftshauses in den Himmel. Überall wird gebaut und investiert. Gerade hat die örtliche Morgenpost die teuerste Eigentumswohnung Deutschlands im Bezirk Mitte gefunden. Mehr als 19.000 Euro pro Quadratmeter ruft der Verkäufer dafür aus.

 

„Berlin ist arm aber sexy“, sagte der frühere Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit gerne. Diese Aussage stimmt nur noch teilweise. Denn seit einigen Jahren boomt die Wirtschaft der Metropole, der nach der Wende in den neunziger Jahren rund 300.000 Industriearbeitsplätze abhanden gekommen sind. Von diesem Strukturwandel hat sich die Stadt mittlerweile erholt.

 

Ganze Stadtviertel ändern in kurzer Zeit ihr Bild, der östliche Arbeiter- und Industriebezirk Lichtenberg zum Beispiel. Inmitten eines alten Fabrikgeländes ist das Dong Xuang Center entstanden. Klein-Hanoi heißen die etwas fußballplatzgroßen Hallen, in denen die früheren vientnamesischen Gastarbeiter ein Handelszentrum eingerichtet haben. Auch ärmere Berliner kaufen in den Billigshops ein, in denen so ziemlich alles erhältlich ist, was man zum Leben benötigt, vom Haarschnitt für sechs Euro über exotische Früchte bis hin zur Ausstattung für ein Nagelstudio.

 

Nicht weit entfernt haben Investoren teure Stadtvillen mit Wasserblick errichtet. Und in die Altbauquartiere des Bezirks ziehen immer mehr Studenten, die sich die viel teureren Wohnungen im Szeneviertel Friedrichshain nicht leisten können. Mit ihnen kommen neue Cafés und Geschäfte. Aus alt wird neu gemacht. In vielen anderen Ecken der Stadt verläuft die Entwicklung ähnlich. Ein Verdrängungswettbewerb ist im Gange, wie auch der Stadtentwicklungssenator festgestellt hat. Dessen Monitoring stellt eine verbesserte soziale Lage in der Innenstadt fest und sieht problematische Entwicklungen in den Großsiedlungen am Stadtrand. Dorthin werden die Ärmeren zunehmend verdrängt. Das ist die Kehrseite des Booms.

 

Die Statistik belegt den Aufschwung. Mit einem Wachstum von drei Prozent rangierte die Wirtschaft im vergangenen Jahr nur knapp hinter Spitzenreiter Baden-Württemberg. Über die letzten zehn Jahre betrachtet liegt Berlin sogar an die Spitze vor den Südländern. Die Behörden melden für 2015 allein aus dem Ausland eine Nettozuwanderung von mehr als 50.000 Neubürgern. Dazu kommen noch viele, oft gut ausgebildete Deutsche, die an der Spree einen Neustart wagen.

Mit gut 32.000 Euro Durchschnittsverdienst hat die Hauptstadt nach ebenfalls kräftigen Steigerungsraten nun den bundesweiten Durchschnittswert erreicht.

 

Wie es zum Aufschwung kam, weiß niemand ganz genau. Entscheidend ist wohl die Mischung aus einer ausgebauten Forschungslandschaft und einer großen kulturellen Attraktivität bei günstigen Preisen für Studenten und Akademiker. Das sind die neuen Unternehmer. Herausragend ist auch der der Tourismus, der immer mehr Jobs in der Hotellerie und der Gastronomie ermöglicht. Mehr als zwölf Millionen Besucher wurden 2015 gezählt. Die vielen privat untergebrachten Gäste sind darin nicht enthalten.

 

Erstaunlich ist vor allem die Renaissance der industrienahen Dienstleistungen. Jetzt wirkt sich die Vielzahl der Neugründungen, insbesondere rund um das Internet, allmählich aus. „6Wunderkinder“ heißt eines der bekanntesten Startups, das es mit einer App für Aufgabenlisten so weit gebracht hat, das Microsoft das Unternehmen im vergangenen Jahr übernahm und dafür angeblich einen dreistelligen Millionenbetrag auf den Tisch legte. Immer mehr dieser einstigen Minifirmen wachsen zu Mittelständlern heran. Die Onlinespielefabrik Gameduell kommt mittlerweile auf 150 Beschäftigte, der Modeversand Zalando hat inzwischen europaweit fast 10.000 Beschäftigte.

 

Gerade hat der Regierende Bürgermeister Gründer an den Runden Tisch gerufen. Deren Bilanz ist beeindruckend. Rund 70.000 Arbeitsplätze sind in der Digitalwirtschaft entstanden. Allein im vergangenen Jahr steckten internationale Risikokapitalgeber gut zwei Milliarden Euro in deren Entwicklung. Bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts soll die Zahl der Jobs in den Internetbranchen auf 230.000 steigen. Auch große Konzerne wie die Deutsche Bank, die Bahn oder die Lufthansa setzen auf die Innovationsgier der Berliner Gründerszene.

 

 

 

 

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