Die Mär vom armen Mittelstand

Die Bundesregierung will die Steuerprogression mildern und den Mittelstandsbauch verringern. Beides ist nicht so dramatisch, wie viele meinen

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Von Hannes Koch

18. Mär. 2010 –

In der Union wird erwogen, noch vor der NRW-Landtagswahl im Mai ein Konzept für eine kleine Steuerreform zu präsentieren. Unter anderem Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) will damit den sinkenden Umfragewerten entgegenwirken. Im Mittelpunkt dieser Steuerreform könnte stehen, die so genannte kalte Progression zu mildern, den schleichenden Anstieg der Steuerbelastung infolge von Lohnerhöhungen.


Regierungssprecher Ulrich Wilhelm freilich dementierte: „Das Thema Steuern wird bei dem Gespräch der Parteivorsitzenden am kommenden Sonntag nicht auf der Tagesordnung stehen.“ Die Süddeutsche Zeitung hatte zuvor berichtet, die Spitze der Koalition könnte schnell die Grundzüge einer Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen von fünf bis zehn Milliarden Euro festlegen. Dies liefe allerdings den Absichten der FDP zuwider. Dementsprechend wies Volker Wissing, der finanzpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, die Überlegungen zurück: „Es bleibt bei dem, was die Koalition vereinbart hat“. Die Steuerreform müsste demnach ein Volumen von rund 20 Milliarden Euro umfassen.


Die umstrittene „kalte Progression“ dient Teilen der Union, der FDP und dem Bund der Steuerzahler als Begründung für die vermeintlich ungerechte Belastung der Bürger. Hinter dem Begriff verbirgt sich dieser Umstand: Durch Lohnerhöhungen steigen die Verdienste. Dadurch nimmt auch die Steuerbelastung zu, denn die Bürger rutschen durch ihre höheren Einnahmen in höhere Steuerklassen. Ohne offizielle Steuererhöhungen nimmt der Staat also von Jahr zu Jahr mehr ein. Wie hoch diese Mehreinnahmen ausfallen, ist nur sehr schwer zu berechnen. Zahlen hat nicht einmal der Bund der Steuerzahler. Um den Effekt auszugleichen, reduziert das Bundesfinanzministerium den Steuertarif ab und zu leicht – zuletzt Anfang 2010. Einen festen Turnus für diese Anpassungen gibt es freilich nicht.


Die kalte Progression, so sagen die liberalen Befürworter der Steuerreform, belaste vor allem die Mittelschicht und den Mittelstand. Die schleichenden Steuererhöhungen würden also den so genannten Mittelstandsbauch aufblähen. Dieser Begriff soll aussagen, dass die eigentlichen Leistungsträger besonders unter hohen Steuersätzen zu leiden hätten. Stimmt das?


Die Steuersenkungen des vergangenen Jahrzehnts haben stark die unteren Einkommensgruppen und Wohlhabenden begünstigt. Bei geringen und mittleren Einkommen bedeutet das: Ein verheiratetes Paar mit zwei Kindern zahlt bis zu einem Jahresbruttoeinkommen von fast 40.000 Euro gar keine Steuern mehr. Das ist unter anderem das Ergebnis der hohen Grundfreibeträge von 7008 Euro pro Kind und 8004 Euro pro Erwachsenem. Oberhalb der Grundfreibeträge allerdings steigt die Steuerzahlung recht schnell an. Zwei Beispiele aus dem Abgabenrechner des Finanzministeriums belegen dies. Demnach zahlt ein alleinstehender Beschäftigter mit 8.000 Euro Einkommen null Steuer, mit 20.000 Euro schon 2.849 Euro Steuer, mit 30.000 Euro fast 6.000 Euro Steuer. Jenseits 70.000 Euro Jahresverdienst nimmt die Belastung dank des gesenkten Spitzensteuersatzes für Reiche nur noch ganz allmählich zu. Das heißt: Wenn Facharbeiter und andere Bürger mit mittleren Einkommen den Eindruck haben, die Steuer würde bei ihnen besonders zuschlagen, liegen sie nicht ganz falsch.


Andererseits weist das Bonner Institut für Finanzen und Steuern die Mär vom armen, steuerlich ausgeplünderten Mittelstand zurück. Ein Vergleich des Steuertarifs von 1990 und 2007 beweist, dass die Steuerbelastung mittlerer Einkommen zwar gestiegen ist, aber nur minimal. Die Mehrbelastung, also die zunehmende Fülle des Mittelstandsbauchs infolge auch der kalten Progression liege bei nur einem Prozent, schreibt das Institut.

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