• Christoph Deutschmann (Jahrgang 1946) ist Professor für Soziologie an der Universität Tübingen. Zur Zeit arbeitet er am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.

„Die Mittelschicht unterstützt die Spekulation“

Ohne das Geld der wohlhabenden Schichten wäre die gegenwärtige Finanzkrise nicht entstanden, sagt der Soziologe Christoph Deutschmann. „Angebot an Kapital übersteigt die Nachfrage“

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Von Hannes Koch

06. Nov. 2008 –

Hannes Koch: Die wohlhabende Bevölkerung in den reichen Industrieländern trage Verantwortung für die Finanzkrise, sagen Sie. Ist der normale Bürger ein gieriger Spekulant?

 

Christoph Deutschmann: Nein, jeder Einzelne hat ehrenwerte Absichten. Manche Leute kaufen Aktien, um das Studium ihrer Kinder zu finanzieren. Andere sorgen für ihr Alter vor, indem sie Anteile von Fonds erwerben.

 

Koch: Aber die individuelle Geldanlage auf dem Finanzmarkt führt insgesamt zu unbeabsichtigten Folgen?

 

Deutschmann: Die Mittelschicht ist stillschweigend oder wider besseres Wissen damit einverstanden, dass mit ihrem Geld eine irrwitzige Spekulation betrieben wird. Der normale Anleger vertraut seine Mittel einem Fonds und dessen Managern an. Diese Geldsammelstellen sind eine neue Art kollektiver Akteure. Und sie üben eine enorme Macht gegenüber der Politik und der Gesellschaft aus.

 

Koch: Wieso nimmt der Einfluss der Fonds zu?

 

Deutschmann: Seit dem 2. Weltkrieg leben Deutschland und andere Industrieländer in relativem Frieden. Die Vermögen werden nicht zerstört. Sie wachsen unablässig – und zwar schneller als die Wirtschaftsleistung. Die Fonds bieten sich als Dienstleister an, um die wachsende Nachfrage nach professioneller Vermögensverwaltung zu befriedigen.

 

Koch: Ist es nicht eigentlich das Kapital der Unternehmen und Reichen, das die Spekulation anheizt?

 

Deutschmann: Nicht nur, auch die obere Mittelschicht ist beteiligt. Wer 4.000 oder 5.000 brutto pro Monat verdient, hat oft Geld übrig. Oder man erbt. Diese Mittel werden nicht selten am Kapitalmarkt investiert.

 

Koch: Die wenigsten Lehrerinnen und Zahnärztinnen, die wenigsten Rechtsanwälte kämen selbst auf die Idee, mit ihrem Geld 25 Prozent Rendite erwirtschaften zu wollen. Woher kommen die astronomischen Gewinnerwartungen der Fonds?

 

Deutschmann: Der Grund liegt in der Konkurrenz der Fonds. Sie müssen sich gegenseitig übertrumpfen, um Anleger anzulocken. Nur wenn dauernd frisches Geld ins System fließt, können auch die Boni für die Manager finanziert werden.

 

Koch: Warum stecken die Banken und Fonds das ihnen anvertraute Kapital in riskante Papiere mit abenteuerlichen Gewinnzielen, anstatt solide Firmen zu finanzieren?

 

Deutschmann: Das Nettofinanzvermögen der Deutschen ist mittlerweile auf rund drei Billionen Euro gestiegen. Für diese riesige Summe gibt es im Inland nicht genug Investitionsgelegenheiten, das heißt, Menschen oder Unternehmen, die die Mittel leihen wollen. Das Kapital weicht daher auf die globalen Märkte aus. Aber auch dort sind die Anlagerisiken sehr schwer einzuschätzen.

 

Koch: Sie sagen, das Angebot sei größer als die Nachfrage. Dann müsste der Preis des Geldes, also die Zins- und Renditeerwartung der Fonds, sinken und nicht steigen.

 

Deutschmann: Eigentlich ja. Aber in den vergangenen Jahren hat sich der Finanzmarkt zunehmend von der realen Wirtschaft abgekoppelt. Die Immobilienblase in den USA ist auch deshalb entstanden, weil Banken neue, risikoreiche und extrem profitable Wertpapiere erfunden haben.

 

Koch: Vielleicht gibt es in den USA, Europa und Japan zu wenig Anlagemöglichkeiten. Wie aber sieht es in China, Indien und Brasilien aus – die Schwellenländer haben doch einen enormen Kapitalbedarf?

 

Deutschmann: China braucht kein westliches Kapital zu leihen. Es ist so erfolgreich, dass es selbst über große Devisenreserven verfügt. In den anderen Schwellenländern wie Indien, Mexiko, Russland, Brasilien oder Argentinien sind die Risiken zu groß, viele Anleger haben sich in den dortigen Krisen die Finger verbrannt. Unter anderem deshalb flossen die überflüssigen Vermögen in die USA, wo sie die Immobilienblase finanzierten.

 

Koch: Wenn Wohlstand jahrzehntelang zunimmt und nicht vernichtet wird, ist das eigentlich eine gute Nachricht. Warum sagen Sie trotzdem, dass der Kapitalismus degeneriert?

 

Deutschmann: Weil es immer mehr Kapitalinvestoren gibt - und im Vergleich dazu weniger Unternehmer und Möglichkeiten, die Mittel sinnvoll anzulegen.

 

Koch: Deshalb sprechen Sie vom „kollektiven Buddenbrooks-Effekt“?

 

Deutschmann: Thomas Mann erzählt in seinem Roman den Niedergang einer Unternehmerfamilie. In der vierten Generation interessiert sich niemand mehr für das eigentliche Geschäft. Diese Idee benutze ich als Metapher. Die Finanzinvestoren haben keinen Sinn für die Probleme der realen Wirtschaft. Sie wollen nur eine möglichst große Rendite aus ihren Beteiligungen herausholen, denn sie stehen ja unter dem Druck ihrer Kunden.

 

Koch: Was müsste geschehen, um das Kapital wieder in die richtigen Bahnen zu lenken?

 

Deutschmann: Der Ökonom John Maynard Keynes hat sinnbildlich den „Tod der Rentiers“ gefordert. Die Anleger müssen sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass Kapital gar nicht mehr knapp ist. Damit entfällt auch die Basis für den Anspruch auf eine Rendite. Weil die Anleger das vermutlich selbst nicht einsehen, muss wohl der Staat nachhelfen

 

Koch: Wie kann man das machen?

 

Deutschmann: Wichtig wäre erst einmal, dass die Steuerhinterziehung bei den großen Einkommen und Vermögen endlich wirksam bekämpft wird. Und dann müsste man wohl auch die Steuern erhöhen. Dieses Geld sollte man in Schulen, Kindergärten und Universitäten investieren. Auch die schlimmsten Formen der Armut könnten wir schnell beseitigen. All das wäre mit Sicherheit besser, als das Geld an der Börse zu verheizen.

 

Christoph Deutschmann (Jahrgang 1946) ist Professor für Soziologie an der Universität Tübingen. Zur Zeit arbeitet er am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.

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