Die schwindende Kraft des Wachstums

Die Bundesregierung will das Wirtschaftswachstum beschleunigen – wieder einmal. Es gibt Anzeichen, dass das nicht richtig funktioniert

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Von Hannes Koch

03. Dez. 2009 –

Politik kann so aufregend und mitreißend sein. Manchmal steckt sie aber auch in einer lähmenden Endlosschleife. Am 4. Dezember 2009 ist wieder so ein Tag. Der Bundestag verabschiedet das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Wachstum – wollen das nicht immer alle Regierungen seit 1949? Aber selten scheint es richtig zu klappen. Das Wirtschaftswachstum ist der große Fetisch der Politik – geheimnisvoll, unersetzlich, unerreichbar. Warum ist Wirtschaftswachstum bloß so wichtig?


Wir, die Einwohner der reichen Industriestaaten, haben uns gemeinsam daran gewöhnt, dass unser Wohlstand permanent zunimmt. Aus einer kleinen Wohnung zieht man in eine 130-Quadratmeter-Etage um. Irgendwann möchte man auch auf den eigenen Garten nicht mehr verzichten. Ein dreiwöchiger Familienurlaub in den USA kostet den Preis eines Kleinwagens. All das lässt sich finanzieren, wenn Löhne und Gehälter wie gewohnt steigen.


Solche Ansprüche hegen nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die anderen Gruppen in diesem Lande. Die Unternehmer, Aktionäre, Politiker und Studenten möchten ebenfalls mehr Geld zur Verfügung haben – nicht weniger. Das Wachstum hat dies lange Zeit ermöglicht: Aus dem Jahr für Jahr größeren Kuchen der Wirtschaftsleistung lassen sich größere Stücke herausschneiden. Und theoretisch, oft auch praktisch, muss niemand etwas abgeben.


In unser Wirtschafts- und Lebensmodell ist aber auch aus einem anderen Grund eine Art Zwang zum Wachstum eingebaut. Wenn eine Firma sich Geld für Investitionen leiht, muss sie es mit Zinsen zurückzahlen. Das Unternehmen will und muss mit dem Verkauf seiner Produkte also mehr erwirtschaften als die eingesetzten Mittel. Dieser ewige Anspruch auf Mehr – Zins, Kapitalrendite, Gewinn – schafft einen ungeheuren Druck.


Wenn das Bruttoinlandprodukt (BIP) – der Wert aller hergestellten Güter und Dienstleistungen - um drei oder vier Prozent jährlich wächst, ist alles im Lot. Deshalb waren die 1950er bis 1970er Jahre die goldene Zeit der Bundesrepublik. Seit den 1980er Jahren aber wurde es schwieriger. Das Wachstumstempo ging zurück. Zwei Prozent BIP-Zuwachs pro Jahr sind heute schon ein politischer Erfolg.


Es ist wie beim Radfahren: Aus dem Stand auf zehn Kilometer pro Stunde schafft man es schnell. Um dagegen von 50 auf 60 Stundenkilometer zu kommen, muss man sich irrsinnig anstrengen. Ökonomisch gesprochen: Deutschland hat heute im Prinzip genug Autobahnen, Schienen, Autos und Wohnhäuser. Neue Märkte mit großen Wachstumraten zu erschließen, wird zunehmend schwerer. In China, Indien oder Amerika geht das noch viel einfacher. Deshalb wandern deutsche Unternehmen mit ihrer Produktion aus wie gerade Daimler in die USA. Nur leider nehmen sie dabei auch Arbeitsplätze und Wohlstand mit, den sie nicht mehr hier, sondern dort generieren.


Die Kraft des Wachstum lässt nach – gleichzeitig ist dieses Modell umstrittener denn je. Ab Sonntag verhandeln die Regierungen der Welt in Kopenhagen, wie sie den Klimawandel stoppen können. Und nicht nur das: Eigentlich sprechen sie auch darüber, ob Wirtschaftswachstum ohne massive Umweltzerstörung überhaupt möglich ist. Vielleicht gelingt es in den kommenden 40 Jahren, die Produktion wie gewohnt zu steigern und trotzdem den Ausstoß von Kohlendioxid auf nahe null reduzieren. Die Rodung der Wälder, die Betonierung der Natur, die Verseuchung der Meere aber schreiten voran. Vor diesem Hintergrund empfiehlt nicht nur der Schweizer Ökonom Hans-Christoph Binswanger, das Tempo des Wachstums auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Seinen Berechnungen zufolge brauchen wir nur einen Zuwachs von 1,6 Prozent jährlich, um unsere Gesellschaft einigermaßen am Laufen zu halten.


Während die Wachstumsrate ökonomisch sinkt und politisch unter Druck gerät, die zusätzlichen Einnahmen also zurückgehen, steigen gleichzeitig die Kosten. Für wichtige Aufgaben braucht ein Land wie Deutschland mehr Geld als früher: die Gesundheitsversorgung und Sozialversicherung einer alternden Bevölkerung, Entwicklungsgelder für die armen Staaten, Investitionen in eine kohlenstofffreie Energieversorgung.


Unter dem Strich dürfte damit der individuelle und gesellschaftliche Spielraum für Konsum enger werden. Unser Wachstumsmodell schafft weniger zusätzlichen Wohlstand – und erst recht weniger Wohlstand, den man sofort verbrauchen kann. Dieser Effekt kann sich auf verschiedene Weise ausdrücken – als stagnierende Löhne, niedrigere Renten, höhere Steuern oder steigende Sozialabgaben. Möglicherweise werden viele von uns später mit weniger Geld auskommen, als sie früher gehofft hatten. Die erstaunlich geringen Beträge, die die Rentenauskunft heute vielen Versicherten in Aussicht stellt, geben einen Vorgeschmack auf die neue Bescheidenheit.


Soll diese Veränderung nicht zu massiven sozialen Spannungen führen, müssen die Unternehmen und Vermögenden einen Beitrag leisten. Es wird nicht funktionieren, dass viele Bürger auf ein Stück Wohlstand verzichten, während die Kapitalbesitzer versuchen, ihren Anteil am Volkseinkommen weiter zu steigern. Das neue, gemäßigte Wachstumsmodell sollte auch einhergehen mit einem sozial ausgewogenen Verteilungsmodell.

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