„Die wunderbare Fähigkeit des Vergessens“

Der New Yorker Finanzprofessor Terrence F. Martell glaubt nicht an den schnellen Aufschwung. Skeptisch ist er auch, dass durchgreifende Lehren aus der Krise gezogen werden

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Von Hannes Koch

04. Sep. 2009 –

Hannes Koch: Nach der großen Krise bessert sich die Lage der Wirtschaft erstaunlich schnell. Können wir aufatmen und davon ausgehen, dass bald wieder eine Art Normalzustand erreicht sein wird?


Terrence Martell: Ich glaube, in der gegenwärtigen Situation kann niemand genau wissen, wie die Situation in ein paar Jahren aussieht. Die Prognosen und Erwartungen der Ökonomen waren noch nie so breit gefächert. Bevor die Arbeitslosigkeit in den USA abnimmt, wird sie erst einmal steigen. Frühestens in etwa einem Jahr kann es überhaupt zu einer signifikanten Erholung kommen.


Koch: Manche Ökonomen geben zu bedenken, dass die mittelfristige Entwicklung dem Buchstaben „W“ ähneln könnte. Auf den hinter uns liegenden steilen Absturz folgte demnach ein leichter Aufschwung, der im kommenden Jahr aber eventuell in eine abermalige Rezession mündet. Sehen Sie diese Gefahr auch für Europa?


Martell: In Europa sieht es ähnlich aus wie in den USA: Ein durchgreifender Aufschwung dürfte noch auf sich warten lassen. Denn auch in Europa werden noch mehr Abschreibungen auf Wertpapiere und Kredite notwendig sein. Ich habe außerdem den Eindruck, dass die europäischen Banken im allgemeinen mit ihrer Rekapitalisierung nicht so gut vorankommen wie die Institute in den USA. Deshalb könnte die Erholung in Europa sogar länger dauern als bei uns.


Koch: Hat die mangelnde Rekapitalisierung der Finanzinstitute damit zu tun, dass etwa die deutsche Regierung es den Banken selbst überlassen hat, ob sie die angebotene Staatshilfe in Anspruch nahmen oder nicht?


Martell: Auch in den USA war es den Instituten grundsätzlich freigestellt, die Hilfe des Staates zu akzeptieren. Nur war hier die Situation vieler Banken hier viel bedrohlicher. Sie hatten zwei Möglichkeiten – die Hilfe freiwillig anzunehmen oder freiwillig bankrott zu gehen. Die Regierung machte ihnen ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnten.


Koch: Jetzt scheinen die Banken schon wieder die alten Wege einzuschlagen. Bei Goldmann Sachs überstiegen die Manager-Bonuszahlungen für 2008 sogar den Gewinn. Bei der Citigroup wurden die Milliarden-Boni faktisch mit Steuergeld bezahlt, das der Staat dem Institut zur Verfügung gestellt hatte. Wie kann man diese abenteuerliche Praxis, die die Öffentlichkeit als ungerecht empfindet, einschränken?


Martell: In den vergangenen Jahren wirkten die hohen Bonuszahlungen als perverser Anreiz, außergewöhnliche Risiken einzugehen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens könnte der Staat ein bestimmtes Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen Leistung eines Unternehmens und der Höhe der Honorierung gesetzlich festlegen. Diese Lösung gefällt mir aber nicht.


Koch: Warum nicht?


Martell: Ich sitze im Leitungsgremium einer Aktiengesellschaft. Das Gehalt, das wir dem Vorstand zahlen, kann ich vor den Aktionären rechtfertigen. Dabei muss Folgendes klar sein: Die Erfolgsbeteiligung, der Bonus, darf nicht für Geschäfte gezahlt werden, deren Profit erst in Zukunft hereinkommt. Ich plädiere dafür, einen Bonus nur in Bezug auf den Gewinn zu zahlen, der auf dem Konto der Firma tatsächlich angekommen ist. Dann aber muss es heißen: Vertrag ist Vertrag. Den können die Eigentümer des Unternehmens und der Vorstand frei vereinbaren. Wenn der Vorstand gut gearbeitet hat, verdient er einen angemessenen Bonus – unabhängig davon, was die Regierung oder das Parlament denken.


Koch: Worin bestünde die zweite Möglichkeit, um hohe Erfolgsbeteiligungen zu beschränken?


Martell: Die Aktionäre sollten mehr Rechte erhalten, damit ihre Stimme bei der Festlegung der Managergehälter mehr ins Gewicht fällt. Denn wem gehört eine Aktiengesellschaft? Den Aktionären. Wenn ein Vorstand horrende Erfolgsbeteiligungen erhält oder gar Boni, nachdem er Verlust gemacht hat, verstößt er damit unter Umständen auch gegen das Interesse der Eigentümer.


Koch: Nicht selten aber besteht eine Interessenidentität zwischen Managern und Eigentümern: Beide Gruppen erstreben möglichst hohe Renditen, die sie unter sich aufteilen. Der Schweizer Wirtschaftsprofessor Hans Christoph Binswanger schlägt deshalb vor, die Unternehmensverfassung zu ändern. Weitere Interessengruppen wie Bürgerrechtsorganisationen und Verbraucherverbände könnten in den Aufsichtsräten mitwirken. Diese Mitsprache würde die Geschäftspolitik mäßigen, große Risiken und hohe Gehälter reduzieren. Was halten Sie davon?


Martell: Ein Effekt träte dann sicher sehr schnell ein. Die Sitzungen der Aufsichtsräte würden viel länger dauern als heute. Ich kann mir aber nicht recht vorstellen, dass man durch diese Ausweitung des Kontrollgremiums das Problem ungerechtfertigt hoher Bonuszahlungen in den Griff bekäme.


Koch: Warum nicht? Schließlich würden dann nicht nur die traditionellen Interessengruppen eine Rolle spielen, sondern abweichende Positionen einbezogen.


Martell: Aber wozu führt das? Auch dazu, dass der Vorstand versucht, diese neuen Gruppen mit bestimmten Vorteilen zufriedenzustellen. Dabei muss nicht unbedingt herauskommen, dass sein Gehalt und die Bonuszahlungen sinken.


Koch: Hat die ökonomische Theorie versagt, indem sie die Krise nicht rechtzeitig heraufziehen sah?


Martell: Der Markt kann eine sehr merkwürdige Angelegenheit sein. Im 4. Quartal 2008 brach er für bestimmte Finanzprodukte schlicht zusammen. Manche Papiere konnte man nicht mehr kaufen oder verkaufen. Diese Spezialsituation war in den theoretischen Modellen nicht vorgesehen. Vor der Krise nahm man an, dass es immer einen Markt geben werde, es komme nur auf den Preis an.


Koch: Kann man diese neuen Erkenntnisse in die alte Theorie einbauen?


Martell: Das ist ein Problem. Denn unter der Annahme so großer Verluste, wie sie eingetreten sind, kann man eigentlich gar keine Geschäfte machen. Sich dagegen absichern zu wollen, wäre viel zu teuer.


Koch: Wird man die Möglichkeit eines erneuten, ähnlichen Zusammenbruchs also ignorieren?


Martell: Die theoretischen Modelle werden näher an die Realität heranrücken. Man wird versuchen, Krise in verschiedenen Bereichen, die sich gegenseitig verstärken, in die Risikoberechnung einzubeziehen. Grundsätzlich aber muss man davon ausgehen, dass die Menschen die wunderbare Fähigkeit des Vergessens besitzen.


Terrence F. Martell (62) lehrt und forscht als Professor für Finanzwirtschaft am Baruch-College der City University of New York

Foto: www.baruch.cuny.edu/math/mfe_faculty.html

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