Draghi massiert den Bundestag
Der EZB-Präsident diskutiert mit 100 deutschen Parlamentarieren über Inflation und Anleihekäufe. Unwohlsein bleibt
24. Okt. 2012 –
Klaus-Peter Willsch ist „überhaupt nicht überzeugt“. Auf der Terrasse des Bundestages in Berlin sagt der CDU-Abgeordnete: „Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, biegt die Situation zurecht.“
Der deutsche Volksvertreter formuliert ein Unwohlsein, das viele Kollegen umtreibt - in den Regierungsfraktionen von CDU, CSU und FDP, wie auch bei SPD, Grünen und Linken. Um die Parlamentarier zu beruhigen und ihnen seine Argumente näher zu bringen, ist EZB-Chef Draghi am Mittwoch nach Berlin gereist. Mehr als zwei Stunden referiert er vor über 100 der 620 Abgeordneten und beantwortete ihre Fragen. Das zentrale Thema: Hat Draghi richtig gehandelt, als er Anfang September unbegrenzte Ankäufe von Staatsanleihen verschuldeter Euro-Staaten ankündigte?
Draghis Argumentation sieht so aus: Vor zwei Monaten sei die EZB nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie habe ihren niedrigen Leitzins nicht in allen Euro-Ländern durchsetzen können. Der EZB-Präsident verweist auf die hohen Zinsen für Staatsanleihen und Bankkredite beispielsweise in Spanien. Die Ankündigung von Anleihekäufen sei deshalb notwendig gewesen, um das Mandat der EZB erfüllen und die Wirtschaft zu akzeptablen Bedingungen mit Geld zu versorgen. Draghi versichert den Abgeordneten, dass seine Politik dazu beitragen werde, die Preisstabilität innerhalb der Eurozone aufrechtzuerhalten.
Doch diesen Gedankengang kann eine starke Minderheit der Abgeordneten auch am Mittwoch nicht nachvollziehen. „Die Frühindikatoren für Inflation sind nicht zu übersehen“, warnt CDU-Parlamentarier Willsch. Anderen deutschen Politikern fallen mitunter deutlich schärfere Formulierungen ein. So bezeichnete der bayerische CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt Draghi kürzlich als „Falschmünzer“. Wie weit verbreitet diese Kritikpunkte unter den Abgeordneten sind, ist nicht klar. Eine Abstimmung, aus der dies eindeutig abzulesen wäre, gab es bislang nicht. Trotz der latenten Kritik hatte die Regierung von Kanzlerin Angela Merkel bislang immer eine breite Mehrheit hinter sich, wenn es zum Schwur über die Euro-Rettungspolitik kam.
Die Abgeordneten folgen dann doch den Leitwölfen der Fraktionen. Einer von ihnen, FDP-Fraktionsvize Volker Wissing sagt am Mittwoch: „Eine Inflationsgefahr sehe ich nicht. Draghi handelt im Rahmen seines Mandates.“ Ähnlich äußert sich SPD-Fraktionsvize Joachim Poß: „Die EZB tut das Richtige.“ CDU-Haushaltsexperte Norbert Barthle sieht in Draghi gar einen „preußischen Südeuropäer.“
Neben dem Thema der Inflation bewegt die Volksvertreter die Frage des demokratischen Defizits der EZB-Politik. Der grüne Abgeordnete Gerhard Schick merkt an: „Die Rolle der EZB hat sich seit Ausbruch der Krise massiv verändert. Sie ist nicht mehr nur geldpolitische Instanz, sondern inzwischen zum wichtigsten Krisenmanager der Eurozone geworden.“ Deshalb verlangt der grüne Finanzpolitiker eine „Transparenz-Initiative“ der Zentralbank. Vorstellbar wären beispielsweise „regelmäßige öffentliche Anhörungen“. Die deutschen Abgeordneten sind sich ihrer Rolle in Europa durchaus bewusst. Als Volksvertreter des stärksten Euro-Mitgliedes meinen sie, besondere Rechte der Mitentscheidung beanspruchen zu können – ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht.