„Ein gemeinsames Gefängnis ist keine Vision“
Sparen alleine reiche angesichts der Schuldenkrise nicht, sagt Ökonom Joseph Stiglitz im Interview
28. Jan. 2012 –
Hannes Koch: Kanzlerin Merkel hat in ihrer Eröffnungsrede zum Weltwirtschaftsforum von Davos gesagt, dass sie die gemeinsame europäische Währung gerne bewahren wolle. Mehr deutsches Geld mag sie dafür vorläufig aber nicht erübrigen. Kann diese Strategie funktionieren?
Joseph Stiglitz: Ihre Kanzlerin muss erkennen, dass Deutschland in jedem Fall zahlt - egal, ob der Eurozone stabil bleibt oder nicht. Welcher der beiden Wege teurer ist, kann heute niemand abschätzen. Möglicherweise ist zusätzliche Hilfe für verschuldete Staaten im Endeffekt die billigere Lösung. Als Merkel in ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum das Wort „Solidarität“ benutzte, freute ich mich zunächst. In Familien bedeutet Solidarität ja beispielsweise, dass man mit demjenigen schimpft, der vom Rauchen Lungenkrebs bekommen hat, ihm dann aber trotzdem die bestmögliche Therapie bezahlt. Im Verlauf der Rede habe ich allerdings gelernt, dass Solidarität in Merkels Sinn heißt: Die Verwandten besuchen den Kranken nicht im Hospital und leisten auch wenig finanzielle Unterstützung.
Koch: Einspruch - so egoistisch ist Deutschland doch gar nicht. Gleichwohl rät beispielsweise der Internationale Währungsfonds, die europäischen Rettungsfonds auf rund eine Billion Euro zu verdoppeln. Meinen auch Sie, die stabilen Staaten sollten noch mehr Geld zur Verfügung stellen, um die Krise zu beenden?
Stiglitz: Ja, daran geht kein Weg vorbei. Ich schlage vor, dass die Mitglieder der Eurozone gemeinsame Staatsanleihen herausgeben. Durch die Garantie aller würden die Zinsen sinken, die Griechenland oder Portugal an den Rand des Bankrotts drücken. Zum Vergleich: Wenn nicht die US-Regierung Staatsanleihen herausgäbe, sondern jeder einzelne Bundesstaat, wäre Kalifornien längst pleite.
Koch: Auch Eurobonds sind Schuldscheine von Staaten, zu denen die privaten Investoren allmählich das Vertrauen verlieren. Liegt nicht die bessere Lösung darin, dass die Europäische Zentralbank eine unbegrenzte Garantie für die Eurozone übernimmt?
Stiglitz: Grundsätzlich sollte eine Zentralbank nicht die Regierungen finanzieren. Im Augenblick allerdings ist es ratsam, eine Ausnahme zu machen. Wobei die EZB gegenwärtig den falschen Weg beschreitet. Für die Demokratie ist es nicht gesund, wenn die Zentralbank den Banken hunderte Milliarden Euro zu Niedrigzinsen leiht und die Institute diese Mittel mit viel höheren Zinsen an die Regierungen weiterreichen. So verdienen die Banken Milliarden, über die die Steuerzahler zu Recht sauer sind. Viel besser wäre es, wenn die EZB die Staatsanleihen den Staaten direkt abkaufte – ohne Umweg über die Banken.
Koch: Ist Merkel die brutale Sparkommissarin, als die sie im Ausland oft dargestellt wird?
Stiglitz: Auch ich habe den Eindruck, dass die deutsche Politik einseitiges Gewicht auf die fiskalische Disziplin legt.
Koch: Muss diese Disziplin angesichts der hohen Staatsschulden nicht zumindest ein Teil der Antwort sein?
Stiglitz: Fiskalische Disziplinlosigkeit zu vermeiden trägt zweifellos dazu bei, eine ähnliche Krise in Zukunft zu verhindern. Aber sie ist keine Antwort auf die aktuellen Probleme. Dadurch sinken weder die Zinsen noch nimmt die Arbeitslosigkeit in Griechenland ab. So wie sich Unternehmen Geld leihen, um zu investieren, sollten das auch Staaten tun dürfen. Es kommt allerdings darauf an, dass die künftige Rendite dieser Investitionen die Kosten der Verschuldung übersteigt.
Koch: Also plädieren Sie dafür, mehr öffentliches Geld einzusetzen, um das jetzt Wachstum anzukurbeln?
Stiglitz: Das ist unbedingt notwendig. Europaweites Sparen reicht nicht aus, um die Krise zu überwinden. Dafür braucht man auch mehr Geld. Deutschland sollte einen besonderen Ansatz verfolgen. Ihr Land trägt Verantwortung dafür, seinen Exportüberschuss zu verringern und mehr Importe aus anderen Ländern aufzunehmen. Das ließe sich erreichen, in dem die Bundesregierung einerseits die Nachfrage stärkt. Eine Umverteilung von Einkommen von oben nach unten mittels der Steuerpolitik und stärkere Lohnerhöhungen als im vergangenen Jahrzehnt wären richtige Maßnahmen. Helfen können außerdem öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und eine klimafreundliche Energieversorgung. Hier kommt die Solidarität wieder ins Spiel. Man muss in Europa gemeinsam überlegen, welche Maßnahmen in welchem Land am sinnvollsten sind.
Koch: Halten Sie es für den richtigen Weg, die europäische Integration voranzutreiben?
Stiglitz: Auf jeden Fall. Aber eine intensivere Kooperation in Europa bedeutet mehr als finanzielle Handschellen. Ein gemeinsames Gefängnis zu bauen, ist keine politische Vision. Dazu gehören ein Contrat Social zwischen Regierungen und Bürgern, eine abgestimmte Finanzpolitik, gemeinsame Institutionen und eben auch das rechte Gespür dafür, was man anderen noch zumuten kann und was nicht.
Koch: Kann Europa ein Modell für andere Weltregionen sein, wenn es diese Voraussetzungen erfüllt?
Stiglitz: Ja, aber es wäre dann auch ein Modell dafür, was man tun muss, um eine funktionierende Union unabhängiger Staaten zu verwirklichen. Der gemeinsame Markt ist zwar eine gute Sache, aber freier Handel ist nicht alles. Auch eine gemeinsame Währung ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg. Man muss darüber hinausgehen zu einer politischen Union, die auch soziale Mindeststandards zugunsten der Bürger garantiert.
Koch: Wie sieht Ihre Prognose aus – wird Europa die Krise lösen?
Stiglitz: Wenn es gelingt, die nächste Stufe der politischen Union zu erreichen, wird Europa seine Krise wohl bewältigen. Wichtig ist aber, dass die Staaten wirkliche Solidarität praktizieren. Sonst machen die Bürger in dem einen oder anderen Land nicht mehr lange mit.
Bio-Kasten
Joseph Stiglitz (68) ist Professor an der Columbia University in New York. 2001 erhielt er den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten über Märkte mit asymmetrischen Informationen. Zuvor war er unter anderem Berater der US-Regierung unter Bill Clinton und Chefökonom der Weltbank. Bis 2009 leitete er die von Frankreichs Präsident Sarkozy einberufene Kommission zur Etablierung eines neuen Wachstumsbegriffs.