Ein Jahr ohne Akw
Energie liefern vor allem Wind und Sonne
15. Apr. 2024 –
Seit einem Jahr wird in Deutschland kein Atomstrom mehr erzeugt. Der Ausstieg war umstritten. Auch jetzt fordern Politiker immer wieder, die Anlagen ans Netz zu nehmen. Leidet der Verbraucher? Ein Blick auf die Lage am deutschen Strommarkt.
Was ist passiert und warum?
Am 15. April 2023 sind die drei letzten deutschen Atomkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 vom Netz gegangen. Es war der letzte Akt des Ausstiegs, der 2000 mit dem Atomkonsens der damals rot-grünen Bundesregierung begonnen hatte. 2011 beschloss die schwarz-gelbe Regierung das Aus bis Ende 2022. Die Ampel verlängerte die Laufzeit wegen Unsicherheit am Energiemarkt infolge des Ukraine-Kriegs bis Mitte April 2023.
Wie sieht der deutsche Strommix jetzt aus?
Erneuerbare Energieträger wie Wind und Sonne lieferten 2023 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 56 Prozent des eingespeisten Stroms, darunter Windkraft allein 31 Prozent. Unter den konventionellen Energieträgern kam Kohle auf 21,3 Prozent. Aus Atomkraft stammten 1,5 Prozent. 2022 stammten 46,3 Prozent aus erneuerbaren Quellen, Akw lieferten 6,4 Prozent.
Wie hat sich der Strompreis entwickelt?
Wie stark das Aus der Atomkraft den Strompreis beeinflusst hat, ist schwer zu sagen. Nach Zahlen des Energieverbands BDEW muss ein Haushalt, der rund 3500 Kilowattstunden Strom im Jahr verbraucht, in diesem Frühjahr rund 18,69 Cent je Kilowattstunde zahlen. 2023 waren es 23,83 Cent, 2022 gut 16,97 Cent. Hier machen sich die Folgen des Ukraine-Krieges bemerkbar. In den Jahren davor bewegte sich der Strompreis für Verbraucher zwischen sechs und acht Cent. Dazu kommen jeweils noch Netzentgelt, Umlagen, Steuern.
Kann Deutschland genug eigenen Strom erzeugen?
Deutschland ist eingebunden in das europäische Energienetz, das Schwankungen ausgleicht. So exportiert die Bundesrepublik manchmal Strom, manchmal importiert sie ihn. 2023 wurde mehr eingeführt als ausgeführt. Die Menge entsprach rund zwei Prozent des Bruttostromverbrauchs. Dieser Strom hätte nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums auch aus deutschen Kohle- oder Gaskraftwerken stammen können, die aber nicht hochgefahren wurden. Ein Grund: Strom aus dem Ausland etwa Dänemark war billiger.
Ist die Gefahr eines Blackouts gestiegen?
2022 – mit drei Atomkraftwerken – fiel der Strom nach Angaben aus dem Bundeswirtschaftsministerium im Schnitt 12,2 Minuten aus, der zweitniedrigste Wert seit 2006. Damals waren noch 17 Akw am Netz. Daten für 2023 liegen noch nicht vor. Bisher gleichen Stromnetz und konventionelle Kraftwerke Schwankungen aus. Sollte länger weder Wind wehen noch genug Sonne scheinen, wird es eng. Große Stromspeicher fehlen, das Netz muss ausgebaut werden.
Was passiert mit den abgeschalteten Anlagen?
Sie werden abgerissen. Das dauert wegen des radioaktiven Materials 15 Jahre oder mehr. Zurück bleibt ein neues Gewerbegebiet oder Natur.
Lassen sich die letzten drei abgeschalteten Akw wieder hochfahren?
Technisch wäre es wahrscheinlich möglich. Weil die Betreiber EnBW, Eon und RWE sich auf den Ausstieg eingestellt hatten, wurde kein neues Personal ausgebildet. Auch fehlen Brennstäbe. Zudem müssten alle Anlagen eine aufwendige Sicherheitsprüfung durchlaufen, was Jahre dauert. Für die Betreiber ist das Thema abgeschlossen – zu risikoreich, zu viel strahlender Abfall, zu teuer. Die US-Investmentbank Lazard bezifferte die Stromerzeugungskosten der Atomenergie 2021 auf rund 167 Dollar je Megawattstunde, für Wind und Solar lagen sie unter 50 Dollar. „Atomenergie“, sagt ein hochrangiger deutscher Manager im Hintergrund, „ist wirtschaftlich völlig uninteressant.“
Wie sieht die Stromstrategie Deutschlands aus?
Bis 2030 soll der Anteil erneuerbarer Quellen am Strommix auf mindestens 80 Prozent steigen. Die Bundesregierung hat das Vergaberecht beschleunigt. Inzwischen werden auch neue Stromtrassen zwischen Nord- und Süddeutschland gebaut. Die hatte vor allem Bayern jahrelang blockiert. Sie sind für die Wirtschaft wichtig, weil der meiste grüne Strom aus dem Norden stammt, im Süden dafür sehr viele Firmen sitzen, die die Energie brauchen. Das Problem wird verschärft, weil die Kohlekraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden sollen.
Frankreich und Großbritannien bauen neue Akw. Wäre das in Deutschland möglich?
Die komplizierte Planung nebst zahlreichen Klagen dürfte neue Atomkraftwerke in Deutschland auf Jahre verhindern. Die durchschnittliche Bauzeit liegt nach Angaben des World Nuclear Industry Status Report bei gut zehn Jahren. Die Kosten sind hoch. Frankreichs staatlicher Stromkonzern EdF ist beim Vorzeigereaktor in der Normandie zwölf Jahre in Verzug, er soll jetzt 13,2 statt 3,3 Milliarden Euro kosten.
Wie wahrscheinlich sind neuartige, auch kleinere Akw-Typen?
Viele existieren bisher nur auf dem Papier. Experten wie Christian von Hirschhausen von der Technischen Universität Berlin erwarten marktreife Anlagen frühestens in vier Jahrzehnten. Und die meisten erzeugen ebenfalls Atommüll.
Was passiert mit dem bestehenden Atommüll?
Die rund 27.000 Kubikmeter hochradioaktiven Atommülls aus deutschen Akw sollen tief in der Erde sicher verstaut werden. Ein geeigneter Standort wird gesucht, er wird frühestens in 20 Jahren festliegen. Derzeit lagert der Atommüll von mehreren Jahrzehnten Akw-Betrieb an den Kraftwerken und in den Zwischenlagern Ahaus und Lubmin.