Ein Wort für alle Fälle
Rio+20: Alles muss heute „nachhaltig“ sein – vor allem die Weltwirtschaft
19. Jun. 2012 –
Wenn der Energiekonzern E.ON über seine Geschäfte berichtet, betont die Kommunikationsabteilung besonders, dass man „nachhaltig“ arbeite. Das klingt gut – irgendwie nach verantwortlichem Verhalten und Umweltschutz. Was aber verbirgt sich hinter diesem Statement genau?
Einerseits gibt sich E.ON tatsächlich Mühe, neue Wege zu beschreiten. So investiert das Unternehmen viel Geld in Wind- und Solarenergie. Hauptsächlich allerdings wirtschaftet die Firma auf traditionelle Art, unter anderem betreibt sie Kraftwerke, die aus Kohle Strom erzeugen, tausende Tonnen Kohlendioxid ausspeien und damit den weltweiten Klimawandel anheizen. Das ist auf den ersten Blick das Gegenteil von Nachhaltigkeit.
Der schillernde Begriff, ohne den heute kaum ein Konzern auskommt, wird die zentrale Botschaft der Konferenz der Vereinten Nationen über „Nachhaltige Entwicklung“ bilden. Ab Mittwoch (20.6.) unterhalten sich in Rio de Janeiro tausende Politiker, Wissenschaftler und Aktivisten von Bürgerinitiativen darüber, wie die Weltwirtschaft in den Dienst zweier Ziele gestellt werden kann: Umweltschutz und soziale Stabilität.
Was aber bedeutet das Wort „Nachhaltigkeit“ wirklich? Im 18. Jahrhundert postulierte der deutsche Berghauptmann Hans Carl von Carlowitz, dass forstwirtschaftlich genutzte Wälder intakt bleiben, wenn nur soviel abgeholzt werde, wie nachwachse. Seit den 1970er Jahren spielt dieses Konzept eine Rolle in der internationalen Politik. Im Bericht der Weltkomission für Umwelt und Entwicklung, die die norwegische Politikerin Gro Harlem Brundtland leitete, gewann es 1987 seine heute noch gültige Gestalt. Demnach sollen die Menschen ihre Bedürfnisse so befriedigen, dass sie Möglichkeiten anderer Bürger, dasselbe zu tun, in Gegenwart und Zukunft nicht einschränken.
Wer den Begriff „Nachhaltigkeit“ in dieser Weise ernst nimmt, muss feststellen, dass beispielsweise E.ON ihm zuwiderhandelt. CO2 aus den Kohlekraftwerken des Konzerns trägt zum Anstieg der Meeresspiegel bei und könnte dazu führen, dass künftig Millionen Küstenbewohner ihre Heimat verlieren. Deren Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung werden also deutlich eingeschränkt.
Aber nicht nur Unternehmen, sondern auch die normalen Bürger und viele Regierungen verstoßen systematisch gegen das Gebot der Nachhaltigkeit. So beziehen die meisten Privathaushalte in Deutschland Atom- und Kohlestrom, obwohl es andere Möglichkeiten gibt. Und die Politik ermöglicht durch zu lasche Gesetze, dass beispielsweise die Weltmeere leergefischt werden – auf Kosten der künftigen Generationen, die vielleicht keine Fische mehr fangen können, weil es kaum noch welche gibt.
Wobei in ökologischer Hinsicht wenigstens relativ klar ist, was „Nachhaltigkeit“ bedeutet. Nicht so hinsichtlich der sozialen Dimension: „Diese ist am schwächsten entwickelt“, sagt Professor Harald Heinrichs, der an der Universität Lüneburg über „Politik und Nachhaltigkeit“ lehrt und forscht. „Das Ergebnis sozialer Nachhaltigkeit müsste eine soziale Stabilität sein, die nicht erzwungen wird,“ fügt der Wissenschaftler hinzu.
Mit anderen Worten: Die Welt sollte einen Zustand sozialer Gerechtigkeit erreichen, den die Mehrheit der Weltbürger akzeptiert. Das würde bedeuten: Abschaffung der Armut weltweit, Chancengleichheit für alle sieben Milliarden Menschen und ihre Nachkommen. Weil das zwar wünschenswert, aber unrealistisch ist, streiten Regierungen und Experten über das zulässige Maß sozialer Ungerechtigkeit. Wie hoch müssen die Mindestlöhne sein, die Unternehmen wie Puma, Apple oder Lidl den Arbeitern in ihren globalen Zulieferfabriken zahlen? Reichen knapp 700 Euro als Existenzminimum für eine Person in Deutschland? Soziale Nachhaltigkeit ist immer auch ein schwieriger Begriff, weil unterschiedliche Wertentscheidungen in ihn einfließen.