„Entflechtung von Russland läuft in hohem Tempo“

Deutsche Unternehmen wenden sich anderen Ländern zu

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Von Björn Hartmann

20. Sep. 2023 –

Eine Zahl sticht heraus. 2100 Prozent Plus bei den Einfuhren aus Russland im ersten Halbjahr. Schon unter normalen Umständen ist das ein enormer Wert. In Zeiten, in denen der Exporteur internationalen Sanktionen unterliegt, weil er das Nachbarland Ukraine überfallen hat, erst recht. Ginge es nicht um Fische und Fischerzeugnisse, müsste dringend gehandelt werden. Und so bleibt der satte Importzuwachs von 1000 auf 22.000 Euro eine Kuriosität  – vielleicht waren es ein paar Dosen echter Kaviar zusätzlich. Sonst ist der deutsche Handel mit Russland eingebrochen, wie Zahlen des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft zeigen. Die Unternehmen, traditionell stark im Geschäft mit Osteuropa, orientieren sich neu. Zentralasien wird wichtiger. Und besonders die Ukraine.

Allein im ersten Halbjahr brach der Wert der deutschen Einfuhren aus Russland um 89 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein – getrieben vom Importstopp für Gas und Öl. Bei manchen Produktgruppen liegt das Minus weit über 90 Prozent, was auch den Sanktionen geschuldet ist. Auch der Wert der Exporte schrumpfte um 40,5 Prozent. Geliefert werden noch chemische Erzeugnisse, Medikamente, Nahrungsmittel. Russland fiel auf der Liste der wichtigsten deutschen Handelspartner von Rang 13 auf Rang 36. Tendenz absteigend. „Die Entflechtung vom russischen Markt läuft in hohem Tempo“, sagte Catharina Claas-Mühlhäuser, Vorsitzende des Ostausschusses. „Wir beobachten eine tiefgreifende Neuordnung unserer Wirtschaftsbeziehungen mit und in der Region.“

So nimmt der Handel vor allem mit zentralasiatischen Ländern zu. Vor allem Kirgisistan (368,5 Prozent im ersten Halbjahr) und Tadschikistan (112,5 Prozent) gewinnen. Auch der Handel mit Armenien, Belarus und Georgien wuchs jeweils deutlich. Das kann die Geschäfte mit Russland nicht ausgleichen. So legte der Wert der gehandelten Waren mit Armenien, Belarus, Kirgisistan und Tadschikistan zwischen erstem Halbjahr 2022 und erstem Halbjahr 2023 um rund eine Milliarde Euro zu, gleichzeitig schrumpfte der Handel mit Russland um 26,7 Milliarden Euro.

In den Nachbarländern Russlands gebe es eine gewisse Sonderkonjunktur, sagte Claas-Mühlhäuser. Zahlreiche Russen hätten sich dorthin geflüchtet und angesiedelt. Außerdem würden Produkte jetzt direkt in die Länder geliefert. Bis zum Kriegsausbruch seien sie über Russland gekommen. Die Daten ließen keinen Schluss zu, dass Unternehmen im großen Stil die Sanktionen gegen Russland umgingen. Sie forderte mehr Personal für das Bundesamt für Ausfuhrkontrolle, um die bestehenden Sanktionen besser kontrollieren zu können. Als wesentliches Problem, warum sie womöglich nicht so stark greifen, wie erwartet, nennt Claas-Mühlhäuser: „Die Liste der Staaten, die die Sanktionen nicht unterstützen, ist länger als die der Staaten, die sie unterstützen.“

Vor allem die kriegserschütterte Ukraine hat aus Sicht des Ostausschusses Wachstumspotenzial. Der Wiederaufbau könne nicht warten, sagte Claas-Mühlhäuser. Hier verspricht sich die deutsche Wirtschaft Aufträge. Bereits jetzt denken Firmen trotz des Krieges über neue Investitionen in dem Land nach. Der Agrar- und Pharmakonzern Bayer plant eine Saatgutfabrik für rund 60 Millionen Euro, der Baustoffhersteller Fixit will ein drittes Werk eröffnen, der Gipsspezialist Knauf denkt ebenfalls über einen neuen Standort nach. Und Notus Energy aus Potsdam arbeitet an einem Windparkprojekt. Schon im ersten Halbjahr legte der Handel um fast 25 Prozent zu – wobei in den Zahlen auch Rüstungsgüter enthalten sind, die allerdings nicht gesondert ausgewiesen werden.

Eine Großaufgabe wird sein, das Energienetz der Ukraine wiederherzustellen und mit neuer Technik effizienter aufzustellen. Die Anlagen sind derzeit regelmäßig unter Beschuss der russischen Armee. Die Ukraine habe eine Schlüsselrolle bei der Netzstabilität in Südosteuropa, sagte Christian Bruch, stellvertretender Vorsitzender des Ostausschusses, – und damit auch für Teile der EU. Ohnehin sieht er große Chancen für die Ukraine im Energiesektor und bei Windanlagen und Solarparks. So habe das Land bereits vor dem Krieg daran gearbeitet, Wasserstoff mittels erneuerbarer Energien herzustellen.

Claas-Mühlhäuser sagte, der Wiederaufbau solle eng mit dem EU-Beitrittsprozess verknüpft werden. Das stelle sicher, dass gleiche Normen und Standards gälten. Und es bringe Transparenz. Bisher bremst vor allem die allgegenwärtige Korruption im Land. Die Vorsitzende des Ostausschusses sieht allerdings Bewegung. Zuletzt hatte Ukraines Präsident Wolodymir Selenski den Verteidigungsminister wegen Korruptionsvorwürfen ausgetauscht.

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