„Europa darf kein Freilichtmuseum werden“

Gegen die Wachstumsskeptiker in der eigenen Partei sagt Böll-Stiftung-Vorstand Ralf Fücks: „Wir müssen Innovationen beschleunigen, nicht bremsen“

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Von Hannes Koch

05. Apr. 2013 –

Hannes Koch: Viele Menschen glauben nicht mehr daran, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen selbst. Sie sind optimistischer, wie man in Ihrem neuen Buch „Intelligent Wachsen“ liest. Warum?


Ralf Fücks: Ich kann die Endzeitstimmung, die in Teilen unserer Öffentlichkeit herrscht, nicht nachvollziehen. Während wir skeptisch in die Zukunft schauen, ist ein Großteil der Menschen auf der Welt gerade im Aufbruch. Das gilt vor allem für die Entwicklungs- und Schwellenländer, wo Milliarden Menschen aus miserablen Lebensverhältnissen in die industrielle Moderne unterwegs sind. Ich sehe uns nicht in einer Endzeit, sondern in einer Gründerzeit.


Koch: In Staaten wie Deutschland steigt die Armut, die öffentlichen Schulden wachsen, die Welt steuert ungebremst auf den Klimakollaps zu. Wie können Sie da von Fortschritt sprechen?


Fücks: Die Globalisierung hat für eine große Zahl von Menschen reale Verbesserungen gebracht. Lebenserwartung, Bildungsniveau, Einkommen steigen. Die Kluft zwischen reichen Industriegesellschaften und aufstrebenden Ländern wird geringer. Richtig ist, dass wir vor großen Problemen stehen. Aber wir sind nicht zum Niedergang verdammt. Wir brauchen eine gerechtere Verteilung von Reichtum und mehr Investitionen in Bildung, um Chancengerechtigkeit zu ermöglichen. Aus ökologischer Sicht geht es darum, den Weg der Energiewende, der Ressourceneffizienz und der umweltfreundlichen Technologien konsequent weiterzugehen. Und mit Blick auf Europa werden wir aus der Krise nur herauskommen, wenn uns eine ökonomische Renaissance gelingt.


Koch: Lange Zeit wurde Fortschritt vornehmlich als materieller Zuwachs gedeutet. Die Enquetekommission des Bundestages zum Wirtschaftswachstum will das Bruttoinlandsprodukt nun um ökologische und soziale Wohlstandsindikatoren ergänzen. Der richtige Weg?


Fücks: Ja, das BIP liefert keinen ausreichenden Aufschluss über die Entwicklung des Wohlstands. Diese Erkenntnis ist heute nahezu Konsens. Wir brauchen zusätzliche Messgrößen, um die ökologischen Folgekosten des Wirtschaftswachstums zu erfassen und Auskunft über Chancengerechtigkeit, Bildungsstand und soziale Teilhabe zu geben. Solche Informationen sind nötig, damit wir steuernd eingreifen können.


Koch: Viele Grüne unterstützen die Arbeit der Kommission auch deshalb, weil sie die zerstörerischen Folgen des permanenten Wirtschaftswachstums beklagen. Teilen Sie diese Kritik nicht?


Fück: Der Befund stimmt in Bezug auf das alte Wachstum, das befeuert wird durch fossile Energien und Raubbau an den natürlichen Ressourcen. Aber es ist keine zwingende Gleichung, dass ökonomisches Wachstum zu mehr Naturzerstörung führt. In hoch entwickelten Gesellschaften zeichnet sich eine Dematerialisierung des Wachstums ab. Kommunikation, Kultur, Bildung und Gesundheitsversorgung verbrauchen weniger Ressourcen als die Ökonomie der Dinge. Außerdem sind wir gerade dabei, eine neue Generation umweltfreundlicher Energietechniken, Verfahren und Produkte zu entwickeln. Erneuerbare Energien, künstliche Fotosynthese oder Bio-Kunststoffe auf Pflanzenbasis sind Beispiele für eine grüne Ökonomie. Sie basiert auf der Koproduktion mit der Natur. Ernst Bloch nannte das „Allianztechnik“. Wachsen mit der Natur – das ist die einzig realistische Antwort auf die rapide Expansion der Weltwirtschaft. Wir haben es nicht der Hand, ob die globale Ökonomie in den kommenden Jahrzehnten weiter wächst. Die Frage ist nur, wie sie es tut.


Koch: Trotz aller Versuche, das klimaschädliche Kohlendioxid in der Atmosphäre zu reduzieren, steigt der weltweite Ausstoß weiter an. Es gelingt den Menschen offensichtlich nicht, das gegenwärtige System zu ökologisieren.


Fücks: Ich bin überzeugt, dass eine nachhaltige Industriegesellschaft möglich ist. Das erfordert nichts weniger als eine grüne industrielle Revolution, vergleichbar mit früheren Innovationswellen wie der Elektrifizierung oder der Digitalisierung.


Koch: Das Ziel, die Erwärmung der Erdatmosphäre auf zwei Grad Celsius zu begrenzen, wird die globale Industriegesellschaft wohl verfehlen. Da liegt der Gedanke nahe, dass man das Gesamtsystem irgendwie bremsen muss.


Fücks: Angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und des raschen Aufstiegs der globalen Mittelschicht ist Nullwachstum eine reine Illusion. Um den ökologischen Kollaps zu vermeiden, müssen wir Innovationen beschleunigen, nicht bremsen. Ziel ist die Entkopplung von Wertschöpfung und Naturverbrauch. Dafür gibt es bereits ermutigende Beispiele. So hat die deutsche Chemieindustrie ihren Umsatz seit 1990 um 40 Prozent gesteigert, im gleichen Zeitraum aber ihren Energieverbrauch um mehr als 30 Prozent und den CO2-Ausstoß um gut 40 Prozent verringert. Genau diesen Weg müssen wir weitergehen. Wir müssen unser Land zu einem Erfolgsmodell für die Konversion der Industriegesellschaft machen. Die Energiewende ist dafür ein Schlüsselprojekt.


Koch: In reichen Industriestaaten wie Deutschland wächst die Wirtschaft insgesamt nur noch langsam. Zu mehr Wohlstand zu kommen, scheint für breite Schichten der Bevölkerung illusorisch. Halten Sie eine Umkehr dieses Trends für möglich?


Fücks: Für Deutschland sind die hohen Wachstumsraten der Nachkriegszeit passé. Insofern ist es vernünftig, uns unabhängiger von permanentem Wachstum zu machen. Das bedeutet zum Beispiel die Staatsverschuldung einzudämmen, weil wachsende Schulden steigende Steuereinnahmen erfordern. Das gilt auch für das Sozialsystem. Wer gegen Wachstum wettert, kann die Sozialkassen nicht mit immer neuen Ansprüchen befrachten. Gleichzeitig hat Deutschland gute Chancen, an einer wachsenden Weltwirtschaft zu partizipieren, indem wir intelligente Produkte und Dienstleistungen in die expandierenden Märkte exportieren und damit Einkommen generieren. Wir sind Teil einer dynamischen Welt, in der es auf Bildung, Innovation und Unternehmergeist ankommt.

 

Koch: Kurz gesagt: Sie wollen nicht in einem lahmarschigen Land leben, dass sich allmählich auf´s Altenteil zurückzieht. Sonst, so befürchten Sie, wird Europa von den aufstrebenden Mächten marginalisiert.


Fücks: Ich finde nicht erstrebenswert, Europa zu einem Freilichtmuseum zu machen, das nur noch seinen schrumpfenden Wohlstand umverteilt. Statt zum Rückzug zu blasen, brauchen wir eine Vision von grünem Fortschritt. Dazu gehört auch, unseren Lebensstil zu überdenken. Natürlich ist es richtig, weniger Fleisch zu essen. Unser Fleischkonsum ist nicht globalisierbar, er trägt zum Hunger auf der Welt bei. Aber ich bin überzeugt, dass der Prozess neuer Entdeckungen, neuer Möglichkeiten und Bedürfnisse niemals abgeschlossen ist. Unsere Welt verändert sich rascher denn je. Es kommt darauf an, diesen Wandel in ökologische und friedliche Bahnen zu lenken. Das ist die Aufgabe von Politik.


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Ralf Fücks (61) ist Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen. Gerade erschien sein Buch „Intelligent wachsen. Die grüne Revolution“ im Hanser Verlag. 362 S., 22,90 €.


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Die neue Wachstumsdebatte

Seit dem sichtbaren Ausbruch der Finanzkrise 2007 ist eine neue Debatte über die Sinnhaftigkeit von Wirtschaftswachstum im Gange. Viele stellen sich die Frage: Zeigen die Exesse der Finanzbranche nicht abermals, dass das Wachstumsmodell der westlichen Industriestaaten mittlerweile grundsätzlich mehr schadet als nützt?


Die Diskussion wurde so drängend, dass der Bundestag 2010 die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ einsetzte. In wenigen Wochen beendet diese ihre Arbeit. Wichtigstes Ergebnis: Die Abgeordneten und Wissenschaftler empfehlen zusätzliche volkswirtschaftliche und soziale Messgrößen für das Wohlbefinden unserer Gesellschaft in Ergänzung zum Bruttoinlandsprodukt. Das BIP, die Summe der produzierten Waren und Dienstleistungen, wird damit relativiert.


In diese Debatte hinein veröffentlicht Ralf Fücks nun sein Buch „Intelligent Wachsen“. Seine These: Wir brauchen ein neues, sozialeres und ökologisches Wachstumsmodell. Unter diesen Voraussetzungen sei Wirtschaftswachstum nach wie vor notwendig und sinnvoll.


Gegenthesen vertritt unter anderem Reinhard Loske, ehemaliger grüner Umweltsenator in Bremen. Er plädiert für eine „Politik der Mäßigung“. Ein wichtiges Argument: Die Entkopplung von Mengenwachstum (mehr Produkte) einerseits und notwendigem Rückgang von Energieverbrauch und Klimagasausstoß funktioniere nicht. Deutschland und Europa würden nur scheinbar ökologischer, weil die schmutzige Produktion mittlerweile in Asien stattfinde. Loske rät zu einer „Doppelstrategie aus ökologischer Modernisierung und der Reduzierung von Wachstumszwängen“.

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