Freie Wahlen und Verfassung für Syrien
Die syrische Opposition einigt sich erstmals auf einen politischen Rahmen für die Zeit nach dem Sturz des Diktators Assad
28. Aug. 2012 –
Das große Ziel für ihr Heimatland Syrien beschreibt Afra Jalabi so: „Vor dem Gesetz sollen alle Menschen gleich sein.“ Am Dienstag stellte die im kanadischen Montreal lebende Anthropologin zusammen mit weiteren syrischen Oppositionellen ein gemeinsames Grundsatzprogramm für die Zeit nach dem Sturz des Assad-Regimes vor. Eine verfassunggebende Versammlung soll die Syrer in einen demokratischen Rechtsstaat führen, der die Menschenrechte aller Bürger achtet. An der Ausarbeitung waren Teilnehmern zufolge erstmals alle wesentlichen Strömungen der Opposition beteiligt, auch die Freie Syrische Armee und die Moslembrüder. Amr al-Azm, Professor für Geschichte in Ohio/ USA und Sprecher des Bündnisses, rief die internationale Staatengemeinschaft auf, Flugverbotszonen zum Schutz der Bevölkerung durchzusetzen und schwere Waffen an die Opposition zu liefern.
„Der Tag danach“, lautet der Titel des in Berlin präsentierten Programms. Während des sechsmonatigen Verhandlungsprozesses waren die Syrer Gäste der Stiftung Wissenschaft und Politik, der außenpolitischen Beratungsorganisation der deutschen Bundesregierung. Wesentliche Unterstützung und Finanzmittel lieferten das US-Friedensinstitut (USIP) und das US-Außenministerium. Das Schweizer Außenministerium beteiligte sich mit einem symbolischen Betrag von 50.000 Euro. „Die Schweiz begrüßt die Anstrengungen für einen friedlichen Übergang“, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums am Dienstag. Für die syrische Opposition hat diese Förderung durch die Schweiz eine erhebliche politische Bedeutung. Afra Jalabi betonte: „Wir Syrer haben den Prozess in der Hand.“ Damit wandte sie sich gegen den Vorwurf, die Regimegegner würden aus den USA ferngesteuert.
Die etwa 45 beteiligten Regimekritiker verstehen ihr in englischer und arabischer Sprache veröffentlichtes 122-Seiten-Papier als Angebot zur Debatte innerhalb Syriens. „Unsere Vorschläge sind nicht in Stein gemeißelt“, sagte Murhaf Jouejati, Politik-Professor aus der US-Hauptstadt Washington.
Die Opposition bekennt sich zu den „Prinzipien der Demokratie“ und will mit dem „Erbe des Autoritarismus“ brechen. An dessen Stelle soll ein Rechtsstaat treten, dem sich auch Armee, Geheimdienste und Polizei unterordnen müssen. „Syrien wird eine unideologische Armee bekommen“, so Jouejati. In diese sollen sich nach dem bevorstehenden Fall des Regimes auch die Truppen der Freien Syrischen Armee einordnen, die gegenwärtig den militärischen Kampf gegen die Regierung von Baschar al Assad führt. Jouejati fügte hinzu, dass dies nicht ohne Gerichtsverfahren und Bestrafung derjenigen Widerstandskämpfer möglich sei, die während des Bürgerkrieges Zivilisten drangsaliert, verletzt oder getötet hätten.
Den Übergang in einen dauerhaft stabilen Zustand soll auch eine verfassungsgebende Versammlung gewährleisten. Die Opposition hofft, dass die neue Verfassung unter möglichst breiter Mitwirkung der Bevölkerung ausgearbeitet und in einem Referendum angenommen werden kann. Ein diskriminierungsfreies Wahlsystem soll später die politische Teilhabe aller Bürger sichern. Dieses theoretische Postulat trifft allerdings schon jetzt auf praktische Schwierigkeiten. Die Opposition kann sich unter anderem nicht darüber einigen, wie es mit dem Selbstbestimmungsrecht von Ethnien steht, besonders dem der Kurden.
„Eine Exilregierung zu formieren, ist nun der nächste logische Schritt“, sagte Amr al-Azam. Damit formulierte er eine Position, die nicht nur im Bündnis umstritten ist. Während der französische Staatspräsident Francois Hollande diesen Schritt befürwortet, lehnt ihn das US-Außenministerium vorläufig ab. Dort befürchtet man, sonst unter anderem der Moslembruderschaft zu großen Einfluss zu verschaffen. „Wir möchten sichergehen, dass ein solcher Schritt auf einer soliden demokratischen Grundlage erfolgt“, sagte US-Außenamtssprecherin Victoria Nuland. Dazu müssten die Oppositionskräfte im In- und Ausland besser koordiniert werden.
Während der sechs mehrtägigen Treffen der Opposition zwischen Januar und Juni in Berlin waren die wichtigsten Gruppen beteiligt. Dazu gehören die Lokalen Koordinierungskomitees (LCC), das Nationale Koordinierungskomitee für Demokratischen Wandel (NCC) und der Syrische Nationalrat (SNC), deren Teil auch die in Syrien verbotene Moslembruderschaft ist. Die Moslembrüder würden nicht die Forderung erheben, dass die islamische Rechtsordnung der Scharia zur Basis des neuen Staates werden müsse, erklärten Teilnehmer. Murhaf Jouejati: „Für religiöse Extremisten ist im zukünftigen System kein Platz.“ Vertreter der Freien Syrischen Armee (FSA) nahmen nicht direkt an den Verhandlungen teil. Sie waren aber zeitweise per Skype zugeschaltet. Der gastgebenden Stiftung ist es wichtig, die Kämpfer der FSA offiziell nicht zu unterstützen.