Horror und Wirklichkeit
Kommentar zur Energieplanung von Hannes Koch
01. Mai. 2012 –
Wo heute ein Kraftwerk ausreicht, sollen künftig zwei notwendig sein. Etwas zugespitzt kann man so eine paradoxe Vision beschreiben, die in der deutschen Energiewirtschaft viele Anhänger hat. Diese merkwürdige Forderung wird auch am Mittwoch eine wichtige Rolle spielen, wenn sich Kanzlerin Merkel mit den Fürsprechern der großen Energiekonzerne trifft. Haben wir zu viel Geld? Nein, aber trotzdem versucht das alte Strom-Oligopol aus E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW seine überkommene Position gegen die Interessen der Allgemeinheit durchzusetzen.
Die Ansage der Konzerne ist diese: Die wachsende Kapazität der Erneuerbaren Energien Sonne, Wind und Biomasse muss durch ein zweites konventionelles Energiesystem abgesichert werden. Quasi solle für jedes Sonnen- und Windkraftwerk ein Kohle- oder Gaskraftwerk als Notfallreserve zur Verfügung stehen. Praktisch läuft diese Politikempfehlung darauf hinaus, dass trotz der Energiewende die Produktionskapazität des fossilen Systems steigt, anstatt zu sinken.
Ist das notwendig? Nein, diese energiepolitische Horrorvision basiert auf der irrigen Annahme, dass die Ökokraftwerke alle zur gleichen Zeit komplett ausfallen. „Dunkle Flaute“ heißt diese angeblich stündlich mögliche Katastrophe in der Sprache der Energiekonzerne – man kann auch sagen „wolkiger Tag ohne Wind“. Falsch ist diese Prophetie deshalb, weil im Zuge der Energiewende nicht nur saubere Kraftwerke, sondern auch neue Stromverteil- und Speichertechniken entwickelt und gebaut werden. Unser Energiesystem wird intelligent. In 15 oder 20 Jahren können wir die Produktion und Nachfrage von Elektrizität viel besser ausbalancieren.
Ein paar dreckige Reservekraftwerke, die mit Kohle oder Gas laufen, werden auch dann noch gebraucht – aber keinesfalls so viele, wie besonders E.ON, RWE und Vattenfall verlangen. Deren Einflüsterungen sollten Bundesnetzagentur und Bundesregierung keine Beachtung schenken. Tun sie es doch, bescheren sie uns eine energetische Doppelstruktur, die wir später mittels der Strompreise bezahlen müssen.