Hunger durch Wohlstand

Der weltweite Preisanstieg für Nahrungsmittel wirft viele Fragen auf, auch die nach unserem Lebensstil

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Von Hannes Koch

30. Apr. 2008 –

Es ist ein fruchtbares Land. Im tropischen Klima besonders der Regenzeit gedeihen Bananen, Mangos, Süßkartoffeln und Brotfrucht. Auch Reis, die traditionelle Beilage der einheimischen Küche, wird auf den Feldern angebaut. „Meist allerdings nur, um den Eigenbedarf zu decken“, sagt Gerd Fleischer. Der Landwirtschaftsexperte der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), einer großen deutschen Entwicklungsorganisation, hat 2004 ein halbes Jahr in Ost-Timor verbracht. Bei diesem und weiteren Aufenthalten in dem Inselstaat nördlich Australiens ist Fleischer auf ein merkwürdiges Phänomen gestoßen. Die Bauern könnten ohne Probleme mehr Reis anbauen. Doch sie tun es nicht.

„Zwei Ernten sind möglich“, so Fleischer. Aber die Bauern lassen es meist bei einer Ernte bewenden. Sie begnügen sich damit, eine bis 1,5 Tonnen Reis pro Hektar und Jahr zu erwirtschaften. Vier Tonnen wären erzielbar. Nachdem er die Situation der Landwirtschaft in Ost-Timor untersucht hat, fällt es GTZ-Experte Fleischer nicht mehr schwer, den Grund für die Zurückhaltung zu nennen. Es ist eigentlich ganz einfach: Der unter anderem aus Thailand und Vietnam importierte Reis ist billiger als der, den die einheimischen Bauern selbst herstellen. Ein Kilogramm Importreis kostet 12 US-Cent, die Produktion eines Kilos in Ost-Timor dagegen 18 Cent. Es lohnt sich für die Bauern also nicht, ihren Reis zum Markt zu transportieren und dort zu verkaufen. Deshalb produzieren sie keine Überschüsse – mit dem Ergebnis, dass Ost-Timor sich nicht selbst mit Reis versorgen kann.

In den vergangenen Jahren hat das kaum jemanden gestört. Doch jetzt wird die Abhängigkeit vom Ausland zum Problem. Denn der Preis, den die Bevölkerung von Ost-Timor für importierten Reis bezahlen muss, ist drastisch gestiegen. Der kleine Staat im Pazifik ist eines der Opfer der weltweiten Ernährungskrise.

Diese führt seit Monaten zu Unruhen rund um den Globus. Nicht nur in der Elfenbeinküste und Kamerun kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. In Haiti trat der Präsident zurück, weil Zehntausende gegen die hohen Nahrungsmittelpreise protestierten. In Ägypten schoss die Polizei auf demonstrierende Arbeiter.

Nachdem die Preise für Nahrungsmittel seit den 1960er Jahren weltweit gesunken waren, ist nun ein starker Anstieg zu verzeichnen. Von März 2007 bis März 2008 sind Lebensmittel durchschnittlich um 57 Prozent teurer geworden, weiss die Welternährungsorganisation FAO. Der Preis für Weizen liegt um 77 Prozent über dem Niveau von Anfang 2007, bei Reis beträgt der Anstieg etwa 170 Prozent.

Viele Menschen in den reichen Ländern haben damit kein Problem. Manche müssen sich zwar einschränken, doch man kann nicht sagen, dass in Deutschland, Frankreich oder Spanien der Hunger grassiert. Für viele Menschen aber in Afrika, Südamerika, oder auch im kleinen Staat Ost-Timor sind hohe Nahrungsmittelpreise eine Katastrophe. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen lebt fast eine Milliarde Menschen von weniger als einem Dollar am Tag. Für viele von ihnen bedeutet der Boom des Reispreises, dass sie tagelang ganz verzichten müssen.

Dass die Nahrungsmittelproduktion in vielen Entwicklungsländern – auch in Ost-Timor – so gering ausfällt, hat mehrere Ursachen. Erstens produzieren Industrieländer wie Deutschland und die USA mehr Lebensmittel, als sie selbst verbrauchen. Gigantische Mengen werden auf dem Weltmarkt verkauft. Subventionen dienen dazu, europäische oder US-amerikanische Agrarprodukte international konkurrenzfähig zu machen. Thilo Bode, Chef der Organisation Foodwatch, sagt, dass die Industrieländer jeden Tag eine Milliarde Dollar aufwenden, um Weizen, Mais oder Milchpulver in den Weltmarkt zu drücken. Das ist ein Handelskrieg der reichen gegen die armen Länder, deren Bauern mit den niedrigen Preisen nicht mithalten können. Hinzu kommt, dass auch neue Industrie- und Schwellenländer wie Thailand und Vietnam ihre Agrarüberschüsse billig auf dem globalen Markt verkaufen.

Zweitens hat die Regierung manchen Entwicklungslandes die Preise für Grundnahrungsmittel selbst künstlich niedrig gehalten, um die städtische Bevölkerung zu unterstützen. „Den Bauern auf dem Lande fehlte damit der materielle Anreiz, ihre Produktion auszudehnen“, erklärt Harald von Witzke, Agrarökonom an der Humboldt-Universität in Berlin. Wenn die Preise im Keller sind, lohnt sich für die Bauern schlicht nicht, Überschüsse zu erwirtschaften.

Und drittens haben sowohl die Industriestaaten, als auch die Entwicklungs- und Schwellenländer zu wenig Geld in die Landwirtschaft investiert. Vor 25 Jahren gaben die Staaten der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) noch 17 Prozent ihrer Mittel dafür aus, die ländliche Entwicklung zu fördern, gegenwärtig sind es nur noch 3,7 Prozent. Weniger Geld bedeutet weniger Forschung an ertragreichen Getreidesorten, weniger Ausbildung für Bauern, weniger Straßen, weniger Lagerhäuser.

Die gegenwärtige Ernährungskrise resultiert also zum Teil aus der zu geringen Landwirtschaftsproduktion in vielen Entwicklungsländern. Deshalb trifft der Preisanstieg die dortige Bevölkerung hart. Andererseits hat die globale Nachfrage nach Getreide, Reis, Soja und Fleisch erheblich angezogen. Das ist die andere Seite der Medaille.

Höhere Preise für Nahrungsmittel sind auch eine Nebenwirkung zunehmenden Wohlstandes. Das ist die Ironie der Entwicklung. In China sind Hunderte Millionen Menschen der Armut entkommen und genießen inzwischen ein erträgliches materielles Niveau. Wer mehr Geld zur Verfügung hat, isst aber auch mehr Fleisch. So hat sich der Fleischkonsum der Chinesen in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Millionen Rinder und Schweine in den riesigen Ställen der Tierproduktion fressen immer größere Mengen Getreide, das folglich nicht mehr als Nahrungsmittel für Menschen zur Verfügung steht. Eine einfache Faustregel besagt, dass man fünf bis sieben Kilo Getreide verfüttert, um ein Kilo Fleisch heranwachsen zu lassen.

Doch nicht nur die Nachfrage in China und Indien mit ihren 2,4 Milliarden Menschen steigt, sondern auch die USA und Europa leisten einen Beitrag zur Verteuerung. Um das Klima zu schützen, sind die reichen Länder unbeabsichtigt in einen Zielkonflikt geraten. Gegenwärtig lautet die Alternative: Treibstoff oder Nahrungsmittel. Denn in Nordamerika und Europa versucht man, den Energieverbrauch dadurch umweltfreundlicher zu gestalten, dass Erdöl durch Agrosprit unter anderem auf Soja-Basis ersetzt wird. Die Pkw- und Lkw-Flotten der Industriestaaten verbrauchen ein Teil der Nahrungsmittel, die den Menschen in den Entwicklungsländern fehlen.

Dass es so nicht weitergehen kann, ist mittlerweile auf höchster Ebene angekommen. Zuerst forderte Jean Ziegler, der ehemalige Sonderbotschafter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, ein Moratorium für Biokraftstoffe. Nun hat Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) sich dieses Anliegen zu eigen gemacht. Unlängst legte sie einen „Neun-Punkte-Plan“ vor: Getreide und Ölfrüchte sollen vorläufig nicht mehr zu Biosprit verarbeitet werden. „Das Recht auf Nahrung wiegt schwerer als das Recht auf Mobilität“, begründete die Ministerin.

Und ein dritter Faktor lässt die Agrarpreise steigen: Die Spekulation von Finanzinvestoren. An der Rohstoffbörse in Chicago galt es monatelang als sichere Wette, die Rechte an der Produktion Hunderttausender Tonnen Weizen oder Soja teuer zu kaufen, um sie später noch teurer weiterzuveräußern.

Einen Ausweg aus dieser Krise zu finden, ist nicht einfach. Zumal Ökonom Harald von Witzke davonausgeht, dass die Nachfrage nach Nahrungsmitteln sich bis 2050 verdoppeln wird – unter anderem wegen des Wachstums der Weltbevölkerung. Doch von Witzke ist auch optimistisch. Er verweist auf eine wirtschaftliche Grundweisheit: Höhere Preise können dazu führen, dass das Angebot zunimmt. Bauern produzieren mehr, weil es sich für sie wieder lohnt, ihren Reis auf dem Markt zu verkaufen.

Doch mit Vertrauen in die Ökonomie alleine sei es nicht getan, sagt von Witzke. Für notwendig hält er größere Investitionen in die Landwirtschaft – vor allem dort, wo die Erträge noch relativ leicht zu steigern seien. Wenn man auf den Feldern und Äckern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas vernünftigen Pflanzenschutz betreibe, Straßen- und Bahnlinien in ländliche Regionen baue und Lagerhäuser errichte, könnten zusätzlich Hunderte Millionen Menschen mit erschwinglichen Lebensmitteln versorgt werden – auch in Ost-Timor.

Das klingt beruhigend. Ökonomie und Politik sind demnach mit den bekannten Methoden in der Lage, das Problem anzugehen. Reinhard Loske, der grüne Bremer Umweltsenator, sieht das etwas anders. Immer wieder argumentiert er, dass nicht nur der Klimawandel, sondern auch die Armut von einer Milliarde Menschen etwas mit dem luxuriösen Lebensstil bei uns, in den reichen Ländern zu tun haben. Loske sagt: Autofahren mit Öl schädigt das Klima, Autofahren mit Biosprit verursacht Hunger. Die unbequeme Wahrheit, auf die der Grüne zusteuert, heißt: Nicht besser Autofahren, sondern weniger Autofahren. Und zwar viel weniger.


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