Im Tourbus über die AKW-Baustelle

Im Südwesten Englands entsteht ein Kraftwerk der Superlative

Teilen!

Von Björn Hartmann

05. Aug. 2023 –

Paul Quinn zieht demnächst um. Nichts Besonderes eigentlich. Wäre da nicht sein neuer Nachbar ein Atomkraftwerk, genauer: das erste neue Atomkraftwerk in Großbritannien seit mehr als zwei Jahrzehnten. Paul ist 72 und wohnt bald in Lilstock Beach im südwestenglischen Somerset, drei Häuser und ein Pfad zu einer kleinen Steilküste. Fossilien lassen sich hier finden. Schmetterlinge flattern herum. Alles sehr malerisch. Einerseits. Andererseits Europas wohl größte Industriebaustelle. Oder wie er es formuliert: „Nach links Wiesen und Felder wie im siebzehnten Jahrhundert, nach rechts Futurama.“

Hinkley Point C. Ein paar Betonrohbauten erheben sich da knapp einen Kilometer entfernt über dem Meer, 54 weiße Kräne und ein gelber zeichnen sich scharf vor den dunklen Juni-Wolken ab. Ein kilometerlanger Anleger sticht aufs Wasser. Von hier also sollen einmal sieben Prozent des britischen Strombedarfs kommen. Derzeit hat Atomstrom einen Anteil von rund elf Prozent, Solar und Wind kommen zusammen auf 44 Prozent. Großbritannien setzt anders als Deutschland auch auf Atomenergie, um seinen CO2-Ausstoß zu senken. Und der französische Staatskonzern EDF, selbst Akw-Betreiber hilft. Er baut Hinkley Point C.

Park & Ride-Parkplatz Cannington in der Nähe der Anlage. Etwa 30 Personen steigen in den großen weißen Tourbus. Fahrer Jim, kurze Haare, enganliegende verspiegelte Sonnenbrille begrüßt jeden mit einem Kopfnicken. Die meisten kommen aus der Gegend und sind im Rentenalter, Kaffeefahrtatmosphäre. EDF-Guide Lida van Ham begrüßt zur Tour. Zischend schließt sich die Tür. Abfahrt in die britische Energiezukunft.

Das Gelände hat eine Fläche von 1,74 Quadratkilometern oder 243 Fußballfeldern. Und es ist zweigeteilt. Auch wenn die Behörden Hindernisse zügig beseitigen, eines blieb: ein historisches Wegerecht aus dem frühen Mittelalter, eine britische Besonderheit. EDF musste deshalb zwei Brücken bauen, die die beiden Teile verbinden. Auf dem nördlichen drehen sich die Baukräne, auf dem südlichen lagert Baumaterial, steht das medizinische Zentrum, wohnen Mitarbeiter.

Der Bus erreicht die erste Sicherheitsschleuse. Draußen türmen sich spektakulär weiß-graue Wolken über der Baustelle, lassen die weißen Kräne vor dem hellen Sichtbeton noch unwirklicher erscheinen. Eben noch Schafweide mit grünen Hecken, jetzt Männer in Reflektorwesten und weiß-rote Barrieren neben der Straße. Die zweite Sicherheitsschleuse. „Fotografieren absolut verboten“, sagt Lida. Und dann rollt der Tourbus Richtung Reaktorblock 1.

Lida berichtet von den Rekorden: Eigenes Betonmischwerk mit Labor, größter Kran der Welt mit 250 Metern Höhe, einer Traglast von 5000 Tonnen „oder 50 Blauwalen“ und eigenem Schienensystem. Die Schutzmauer zum Meer hin ist 13,5 Meter hoch und kann Tsunamis standhalten. „Wer zahlt das alles?“ ruft jemand von den hinteren Plätzen – das Kaffeefahrtgefühl ist dahin. „Wir müssen jetzt etwas warten, die anderen auf dem Gelände haben Vorfahrt“, sagt Lida. „Schauen Sie links, da wächst die Betonschutzhülle von Reaktor 1!“

16 Milliarden Pfund (18 Milliarden Euro) sollten die beiden Reaktoren von Hinkley Point C ursprünglich kosten. Inzwischen rechnet EDF mit 32 Milliarden Pfund. Das dürfte die Anlage zum teuersten Atomkraftwerk der Welt machen. Die britische Regierung musste ohnehin einen hohen Einspeisepreis garantieren, sonst hätte EDF nicht mit dem Bau begonnen. Jede Kilowattstunde des neuen Atomstroms wird wohl etwa doppelt so teuer wie eine aus Wind.

Für Experten zeigt der Bau vor allem eins: Die schönen Pläne lassen sich selten halten. Und meist ist nicht alles erfasst. „Bei nuklearen Anlagen ist es eher die Regel denn die Ausnahme, dass die ursprünglichen Kostenplanungen für AKW-Projekte oftmals deutlich überschritten werden“, sagt Jochen Alswede, Abteilungsleiter Forschung und Internationales beim Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base). Auch werde bei der Betrachtung der Kosten und der Folgen auch die Frage der nuklearen Entsorgung systematisch unterschätzt. „So gibt es auch in Großbritannien noch kein Endlager für hochradioaktive Abfälle aus der Kernenergieerzeugung.“ Weltweit ist nur Finnland soweit.

Der Bus wartet immer noch. Langsam setzt der gelbe Kran ein Betonteil ab, das wie ein Spielzeugbauklotz aussieht, allerdings das Format einer Doppelgarage haben dürfte, wenn man den behelmten Bauarbeiter daneben als Maßstab nimmt. Dem stählernen Reaktorrund fehlt noch etwas Höhe, im Herbst soll der gelbe Rekordkran dann den Abschlussdeckel draufsetzen. Der liegt noch neben dem Reaktorblock. Derzeit wachsen die beiden Betonschutzmauern um den Stahlkern.

Viele der Rohrleitungen für die Anlage, vor allem im Bereich beider Reaktoren kommen von Bilfinger. Das Mannheimer Unternehmen verfügt über besondere nukleare Expertise und liefert auch wesentliche Teile des Sicherheitssystems für den Fall einer Kernschmelze. Eine solche Katastrophe lässt sich nur sehr schwer vorstellen – vor allem angesichts des Rohbaus vor den Busfenstern. Insgesamt beträgt Bilfingers Auftragsvolumen eine halbe Milliarde Euro.

Der Bus fährt jetzt an. Lida erklärt: „Wir wollen erst einmal Block 1 fertigbauen. Block 2 geht dann schneller, weil wir nichts mehr testen müssen.“ Denn der Tourbus bewegt sich auch durch ein gigantisches Labor. Manches wurde doppelt hergestellt: Ein Teil zum Testen, eins zum Einbauen. Untersucht wurde etwa der richtige Stahlbetonmix, der den senkrechten und waagerechten Kräften in den Reaktorgebäuden optimal standhält und einen Flugzeugcrash überstehen kann.

Weil vieles in der Form neu ist, dauert alles länger. Bereits 2007 gab es erste Pläne für Hinkley Point C. Die Briten könnten bereits 2017 den Truthahn zu Weihnachten mit Strom aus dem neuen Kraftwerk zubereiten, hieß es damals aus der Chefetage von EDF. Doch erst 2013 war klar, dass wirklich gebaut wird, 2016 ging es dann los. Eigentlich sollte in diesem Sommer der erste Strom fließen, jetzt wird eher 2028 angepeilt. Was angesichts des Rohbaus und der überall auf dem Gelände verteilten Materialien doch etwas wundert. Aber EDF ist optimistisch. Natürlich.

Auf der Baustelle bewegt sich verdächtig wenig – mal abgesehen von den weißen Bussen des Geländenahverkehrs und dem ein oder anderen riesigen gelben Muldenkipper. Als könne sie die Skepsis spüren, sagt Lida: „Insgesamt arbeiten hier bis zu 9500 Personen. aber das meiste passiert bisher unterirdisch.“ In den beiden Pumphäusern etwa, jeweils einen pro Reaktorblock, und den beiden Turbinenhallen. Sie liegen bis zu 21 Metern tief in der Erde. Und da sind die drei Tunnel im U-Bahn-Format, die Spezialmaschinen der deutschen Spezialfirma Herrenknecht unter dem Meeresboden vorangetrieben haben: Durch zwei sollen später einmal 120.000 Liter Meerwasser pro Sekunde zur Kühlung hereinströmen und durch den dritten dann wieder hinausströmen.

Überhaupt das Wasser. Die Tide ist die zweithöchste der Welt, nur an wenigen Tagen im Monat können schwere Lasten per Schiff im nahen Combwich Wharf angeliefert werden. Zuletzt kam im März der erste Reaktorkern. 500 Tonnen Stahl, 13,5 Meter lang. Ein Spezialfahrzeug mit 108 Rädern brauchte fünf Stunden für die acht Kilometer bis zur Baustelle, der Fahrer ging nebenher, steuerte mit einer Art Playstation. Der Reaktorkern lagert wie die Teile der Turbinen, die einmal Strom erzeugen sollen, noch in einer Halle auf dem Gelände, schließlich ist der Rohbau noch nicht fertig.

Auch wenn es deutlich länger dauert als geplant und deutlich teurer wird: Die britische Regierung beschloss im Herbst 2022, eine Kopie von Hinkley Point C in Sizewell an der Ostküste Englands bauen zu lassen – wieder von EDF. Geschätzter Preis: 20 Milliarden Pfund. Erste Arbeiten haben begonnen. Strom könnte in den 30er Jahren fließen.

Der Bus wendet an der nordöstlichen Ecke der Baustelle. Es geht zurück zur Sicherheitsschleuse. Nach einer Stunde mit Rekorden, Kränen und einer erstaunlich ruhigen Baustelle macht sich eine gewisse Trägheit breit. Jim steuert gen Park & Ride-Parkplatz. Zeit für einen Blick auf die Proteste.

Widerstand gegen Hinkley Point C gab es kaum. Zum einen lieferten bereits Hinkley Point A seit 1965 und Hinkley Point B seit 1976 Atomstrom, beide sind inzwischen abgeschaltet. Zum zweiten betrachtet Großbritannien Atomenergie grundsätzlich freundlicher als etwa Deutschland. Und zum dritten fließt reichlich Geld in die eher strukturschwache Region. Im nahegelegenen Bridgwater, jahrelang etwas heruntergekommen, entstanden Hotels, ein neuer Kino- und Einkaufskomplex. Jetzt wird die Innenstadt großangelegt renoviert. EDF unterstützt den örtlichen Karneval, hat die Fachhochschule ausgebaut, steckt eine Million Pfund in ein neues Gesundheitszentrum. Zudem versprach Hinkley Point C dauerhaft 25.000 neue Arbeitsplätze.

Vielleicht ist Paul typisch für die Menschen in der Gegend. Skeptisch, aber er zieht dennoch in die unmittelbare Nähe des Kraftwerks. Er hat überlegt, ob er eine kleine ausgemusterte Militärrakete in den Garten stellen sollte, ausgerichtet auf Hinkley Point C. Aus Spaß, nur um mal zu sehen, was passiert. Seine neue Vermieterin hat ihm abgeraten.

« Zurück | Nachrichten »