Kurzfristig wohlhabender, langfristig ärmer
Wohlstandsindex zeigt: Die Wirtschaftsleistung Deutschlands steigt, aber zuviel Natur wird dafür geopfert
11. Feb. 2014 –
Auf den ersten Blick entwickelt Deutschland sich gut. Ökonomisch, sozial und ökologisch verzeichnete das Land in den vergangenen Jahren Fortschritte. Trotzdem nehme der Wohlstand hierzulande langfristig ab, erklärte Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel am Dienstag. Dieses Paradox fördert das so genannte Wohlstandsquintett zutage – ein Messverfahren, um die Entwicklung von Gesellschaften zu analysieren.
Der Maßstab, den Miegel und seine Kollegin Stefanie Wahl anlegen, besteht aus fünf Teilen. Der ökologische Fußabdruck gibt Auskunft über die Ausnutzung der Natur. Hinzu treten die Einkommensverteilung, die so genannte Ausgrenzungsquote und die Höhe der Staatsschulden. Schließlich wird auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aufgeführt, das bisher dominierende Maß für das Wohlergehen der Gesellschaft. Das Anliegen der Wissenschaftler ist es, das BIP zu relativieren und durch eine ehrlichere Betrachtung zu ersetzen.
Herausgegeben wird das Wohlstandsquintett von der Stiftung „Denkwerkzukunft“ in Bonn. Vorstand Meinhard Miegel, Philosoph, Soziologe und Jurist, ist ein konservativer Wachstumskritiker, der früher unter anderem für den Henkel-Konzern und CDU-Politiker Kurt Biedenkopf arbeitete
Zwischen 2010 und 2012 habe Deutschland sich positiv entwickelt, sagte Wahl. Das BIP stieg, die Staatsschulden sanken, die Umweltzerstörung ging etwas zurück, und die Spaltung der Einkommen in Arm und Reich nahm etwas ab. Letztere messen die Wissenschaftler, indem sie die Einkommen der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung ins Verhältnis setzen zum Verdienst des ärmsten Fünftels. Allerdings fühlten sich 2011 etwa neun Prozent der Bevölkerung Deutschlands sozial ausgegrenzt – ein leichter Anstieg.
Trotzdem steht Deutschland im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Nachbarn mit dieser Bilanz sehr gut da. Kaum ein anderer Staat hat die Finanzkrise so gut verkraftet.
Das ist die kurzfristige Betrachtung. Die langfristige Perspektive fällt jedoch deutlich pessimistischer aus. Im Vergleich zu 2001 „ist Deutschland ärmer geworden“, erklärte Miegel. Der Grund liegt vor allem darin, dass die Gesellschaft insgesamt viel mehr Umwelt beansprucht, als sich im selben Zeitraum regeneriert. Beispiele: Autoverkehr und Industrie tragen dazu bei, innerhalb relativ kurzer Zeit das Eröl und Erdgas aufzubrauchen, das in hunderten Millionen Jahren entstand. Das einzelne Fahrzeug wird zwar sparsamer, aber es sind mehr auf den Straßen unterwegs. Die Landwirtschaft entlässt mehr Chemikalien in die Böden, als diese abbauen können.
Unter dem Strich verbraucht jeder Einwohner Deutschlands zweieinhalb Mal soviele natürliche Ressourcen, wie ihm eigentlich zustehen, sagen die Wissenschaftler. Trotz aller Bemühungen um Energiewende und Umweltschutz zehrt die moderne Wirtschaftsweise die Ressourcen, die sie braucht, zu schnell auf. Wann und in welchem Umfang sich dieser Prozess rächt, weiß heute freilich niemand genau.
Hinzu kommt: Auch in sozialer und finanzieller Hinsicht hat die Entwicklung in Deutschland seit 2001 einen problematischen Verlauf genommen. Die Höhe der Staatsschulden ist gestiegen, die Einkommensverteilung ungleicher geworden, das Gefühl der Ausgrenzung hat zugenommen.
Einen offiziellen Maßstab der Regierung, der dem Wohlstandsquintett ähneln würde, gibt es bisher nicht. Die Bundestagskommission zu Wachstum und Lebensqualität hat sich 2013 zwar dafür ausgesprochen, neben dem BIP auch alternative Indikatoren regelmäßig zu veröffentlichen. Kurzzeitig setzte das Statistische Bundesamt diesen Beschluss im vergangenen Herbst in die Tat um. Dann verschwanden die entsprechenden Internetseiten aber wieder.