„Leiharbeiter fühlen sich wie Menschen zweiter Klasse“

Interview mit dem Katholischen Betriebsseelsorger Erwin Helmer: St. Prekarius kämpft gegen unsoziale Arbeitsverhältnisse

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Von Hannes Koch

27. Mär. 2013 –

Hannes Koch: Die Osterfeiern zur Kreuzigung und Auferstehung Jesu gehören zu den wichtigsten Festen des Christentums. Spielen solche Traditionen eine Rolle, wenn Sie als katholischer Betriebsseelsorger in die Unternehmen gehen?


Erwin Helmer: Klar, unser Glaube ist die Grundlage unserer Arbeit. Aber wir praktizieren einen offenen Ansatz. Wir missionieren nicht, sondern sind Ansprechpartner in allen möglichen Fragen. Und wir bestärken alle, die sich für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität einsetzen. Wir setzen uns beispielsweise dafür ein, dass Betriebsräte gegründet und Tarifverträge geschlossen werden.


Koch: Veranstalten Sie auch Gottesdienste mit den Beschäftigten, oder kommt so etwas gar nicht mehr vor?


Helmer: Wenn die Beschäftigten das anregen, kommen wir diesem Wunsch gerne nach. Als hier in Augsburg die Maschinenbaufirma Manroland in die Insolvenz ging, haben uns Arbeitnehmer gebeten, eine ökumenische Andacht zu organisieren. Das Motto war ein Vers aus der Bergpredigt: „Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“. Das war ein unvergessliches Erlebnis.


Koch: Sie arbeiten in der bayerischen Diözese Augsburg. Wie sieht Ihre Arbeit typischerweise aus?


Helmer: Meine zehn Kollegen und ich halten Kontakt zu den Betriebsräten, zu Gewerkschaften und besuchen die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen. Wir nehmen uns Zeit zu reden und zu fragen: Was läuft gut, was nicht? Und kommen so ins Gespräch über Gott und die Welt, über die Arbeit, die Familie, über Arbeitsunfälle, Bezahlung, aber auch über Scheidungsprobleme und Erziehungsfragen.


Koch: Sie sind wahrscheinlich der einzige Betriebsseelsorger, der selbst einen Heiligen erfunden hat - St. Prekarius. Wen beschützt er?


Helmer: Das ist ein virtueller Heiliger beider Geschlechter – St. Prekarius und St. Prekaria. Das Standbild habe ich in Zusammenarbeit mit der Christlichen Arbeiter-Jugend Bayern schnitzen lassen. Die Figur hat leere Hosentaschen, trägt Jeans und einen Besen. Dieser Heilige dient als Symbol für prekäre Beschäftigung – Leiharbeit, Niedriglohnjobs, Werkverträge. Er begleitete uns bereits bei Aktionen vor dem Arbeitsgericht, bei Betriebsversammlungen, Straßenaktionen und in Gottesdiensten. Denn immer mehr Menschen arbeiten in solchen Verhältnissen.


Koch: Was ist das Problematische an diesen Jobs?


Helmer: Leiharbeiter oder Leute mit Werkverträgen sagen, dass sie sich wie Menschen zweiter Klasse fühlen. Sie haben oft eine schlechtere Bezahlung, weniger Absicherung und mindere Rechte. Nach einer längeren Krankheit erhalten diese Arbeitnehmer beispielsweise keine Hilfen, damit sie wieder gut in ihren Job reinkommen. Sie sind auch von der normalen Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen, auch weil sie kein Geld für den Gewerkschaftsbeitrag übrig haben.


Koch: Wie helfen Sie solchen Beschäftigten?


Helmer: Wir unterstützen die Gründung von Betriebsräten. Beim Versandhändler Amazon ist das gelungen, in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Ver.di. Wenn ein Unternehmen den Tarifvertrag nicht anerkennt, versuchen wir, mit dem Arbeitgeber zu reden. Dann lassen wir uns auch bei Warnstreiks sehen – im Einklang mit der katholischen Soziallehre. Denn die sagt ganz eindeutig, dass die Arbeitnehmer ein Recht auf den Schutz durch Tarifverträge haben.


Koch: Als die ARD unlängst über die schlechte Bezahlung in den deutschen Warenverteillagern des Konzerns Amazon berichtete, waren Sie groß im Bild. Ist Amazon eine Ausnahme?


Helmer: Zusammen mit meinen Vorstandskollegen der Katholischen Arbeitnehmerbewegung in Augsburg habe ich danach einen offenen Brief an Arbeitsministerin Ursula von der Leyen geschrieben. Darin bezeichnen wir die Situation bei Amazon als Spitze des Eisbergs. Denn die Tarifbindung in der deutschen Wirtschaft nimmt ab. Mittlerweile arbeiten nur noch gut 60 Prozent der Arbeitnehmer auf Basis tariflicher Regelungen.


Koch: Machen Sie bei Ihren Besuchen in den Firmen die Erfahrung, dass mittlerweile viele Beschäftigte von ihrem Arbeitslohn nicht mehr vernünftig leben können?


Helmer: Ja, kürzlich haben wir an einer Kundgebung vor Legoland in Günzburg teilgenommen. Dort erhalten viele Beschäftigte 8,50 Euro pro Stunde. Nicht selten lässt sich damit eine Familie nur über die Runden bringen, wenn die Beschäftigten aufstockendes Hartz IV beantragen.


Koch: Wenn prekäre Arbeitsarbeitsverhältnisse ein Phänomen darstellen, das sich zunehmend verbreitet – was sollte die Politik tun?


Helmer: Man müsste das Ausmaß der Leiharbeit auf das Niveau von vor zehn Jahren reduzieren. Damals waren in solchen Arbeitsverhältnissen nur etwa 250.000 Leute beschäftigt. Heute sind es 900.000. Die Katholische Arbeitnehmerbewegung plädiert zudem für Mindestlöhne, die bei 9,70 Euro pro Stunde liegen müssten.


Koch: Bisher haben wir über normale, private Unternehmen gesprochen. Allerdings gibt es ähnlich miserable Zustände auch in kirchlichen Betrieben.


Helmer: Das stimmt. In der Vergangenheit erlebten wir hautnah die Tendenz, Arbeitnehmer kirchlicher Einrichtungen in unabhängige Servicegesellschaften auszulagern und dadurch die Tarifregelungen zu unterlaufen. Die katholischen Bischöfe haben mittlerweile erklärt, dass sie dies nicht gutheißen. Trotzdem gibt es noch kirchliche geprägte Subunternehmen, die Tarifdumping praktizieren. Aber es werden weniger.


Koch: Beispielsweise beim katholischen Malteser Hilfsdienst soll es vorkommen, dass Teilzeitkräfte und Fahrer mitunter nur fünf, sechs oder 7,50 Euro pro Stunde erhalten. Was sagen Sie dazu, dass auch Ihre Kirche Arbeitnehmer in die Armut treibt?


Helmer: Alle kirchlichen Einrichtungen müssen sich an die vereinbarten Tarifregeln halten. Wo es Grauzonen gibt, versuchen wir unseren Einfluss mit Gesprächen, Briefen und Öffentlichkeitsarbeit geltend zu machen.


Koch: Das spezielle kirchliche Arbeitsrecht des sogenannten Dritten Weges verbietet den Beschäftigten zu streiken. Wäre es nicht an der Zeit, diesen alten Zopf abzuschneiden?


Helmer: Die Frage stellt sich vor allem bei solchen kirchlichen Einrichtungen, die staatliche Zuschüsse erhalten, also teilweise in öffentlichem Auftrag handeln. In solchen Fällen wird der Druck wachsen, dass die Beschäftigten die gleichen Rechte bekommen wie das Personal normaler Unternehmen. Wobei man auch sagen muss, dass die Arbeitsbedingungen in vielen kirchlichen Einrichtungen besser sind als bei freien Trägern.


Koch: Einerseits geht es Deutschland gut. Die Zahl der Arbeitsplätze steigt. Andererseits wird die Arbeitswelt härter und unsozialer. Unter dem Strich – macht die soziale Marktwirtschaft eher Fortschritte oder Rückschritte?


Helmer: Eindeutig Rückschritte. Der alte Konsens der Sozialen Marktwirtschaft wurde in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts aufgekündigt. Die enge Verknüpfung von Wirtschaftlichkeit, Gewinnen, Effektivität einerseits und anständigen Löhnen, sozialer Sicherheit und Solidarität andererseits existiert nicht mehr. Deshalb brodelt es unter den Arbeitnehmern. Die Politik sollte der Marktwirtschaft deshalb wieder engere soziale und menschliche Grenzen setzen.


Bio-Kasten

Erwin Helmer (60) ist Theologe, Diakon und Vorstand der Katholischen Arbeitnehmerbewegung in der Diözese Augsburg. Er leitet die dortige Betriebsseelsorge.


Info-Kasten

Die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) ist ein katholischer Sozialverband, dem in Deutschland rund 150.000 Mitglieder angehören. Er fühlt sich der katholischen Soziallehre verpflichtet und übersetzt diese in politische Forderungen. Eine davon: ein gesetzlicher Mindestlohn von 9,70 Euro pro Stunde. Viele Funktionäre der KAB engagieren sich in der Kirche, kooperieren aber auch mit den Gewerkschaften, Betriebsräten und anderen Sozialverbänden. Die Bundesgeschäftsstellen sind in Köln und München.

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