Leute, der Euro rockt
Währungsreform, Inflation? Kommt runter, Ihr Schwarzseher. Deutsche sollten großzügiger sein
22. Dez. 2011 –
Die Füße blutig und halb erfroren – das war der stärkste Eindruck, den die Geschichte bei mir als kleinem Jungen hinterließ. Meine Mutter erzählte sie nicht oft, diese Familienanekdote. Sie war noch nicht volljährig, als ihre Mutter sie mit zum „Hamstern“ nahm. 1946 oder 1947 muss das gewesen sein. Von Remscheid im Bergischen Land fuhren sie mit einem der wenigen funktionierenden Züge nach Köln, dann weiter ins Vorgebirge. Bei den Gemüsebauern dort versuchten sie ihr Glück.
Zu Fuß zogen sie von Hof zu Hof, um Lebensmittel einzutauschen, eher zu erbetteln. Viel hatten sie nicht anzubieten, einige Teile des Familienporzellans, einen Pelzmantel, mehr konnten sie nicht schleppen. Und wenig brachten sie als Tauschware zurück – ein, zwei Kilo Kartoffeln, ein paar Äpfel, vielleicht ein Glas eingelegtes Gemüse. Diese Reisen, die die beiden Frauen mehrmals machten, waren beschwerlich, gefährlich und deprimierend.
Geld, um etwas zu kaufen, hatten die beiden kaum dabei. Es hätte ihnen auch nicht genutzt. Vor der Währungsreform von 1948 gaben diejenigen, die begehrte Waren wie Zigaretten, Benzin oder Lebensmittel besaßen, diese nicht für wertlose Reichsmark her.
Mit dieser Erzählung wuchs ich auf. In vielen anderen Familien war es ähnlich. Man konnte nichts kaufen, Geld hatte keinen Wert, alles war weg. Diese im kollektiven Unterbewusstsein sedimentierten Sätze werden heute durch die Schuldenkrise aktualisiert.
Dann fragt ein eigentlich fähiger und lustiger Journalist wie Volker Wieprecht vom Rundfunk Berlin-Brandenburg taz-Korrespondentin Bettina Gaus im laufenden Nachmittagsprogramm, wann denn die Währungsreform komme. Und lässt nicht locker. Der Euro stehe doch kurz vor seiner Wertlosigkeit, insinuiert der Moderator und spricht damit nicht wenigen Bürgern aus der angsterfüllten Seele.
So sieht das Schreckensszenario aus: Griechenland geht pleite, Italien auch. Deutschland ist überschuldet und kann die Lasten Europas nicht länger tragen. Der Euro bricht zusammen. Und dann ist wieder alles weg. Deswegen heißt es: Kauft Gold! Kauft Wohnungen! Vermeintlich bleibende Werte, egal wie teuer sie jetzt werden und damit selbst zum Risikofaktor mutieren.
Es ist ein Irrsinn, der auf dem uninformierten Gerede über die angeblich unausweichliche Währungsreform basiert. Aber 2011 ist nicht 1948. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Euro zusammenbricht, geht gegen Null. Der Innen- und Außenwert unserer Währung ist stabil, trotz Krise. Der heutige Kurs liegt meilenweit über dem Tiefststand vor Jahren. Außerdem werden rund ein Viertel der Weltdevisenreserven in Euro gehalten. Der Euro ist die zweitwichtigste Währung der Erde. Alle Reichen der Welt plus alle wichtigen Regierungen und Staatsbanken besitzen tausende Milliarden Euro. Die werden sie nicht in den Pazifik werfen, sondern der Europäischen Zentralbank im Notfall helfen, unsere Währung zu stabilisieren. Und selbst wenn einzelne Staaten wie Griechenland aus der europäischen Währung aussteigen sollten, würde der Wert des Euro steigen, nicht sinken. Dann könnten wir mit unserem Geld mehr kaufen, nicht weniger.
Und die Hyperinflation? Meine Oma, Jahrgang 1895, vermachte mir einen Pappkarton voller Inflationsgeld. „100 Millionen“ durchgestrichen, „10 Milliarden“ daruntergedruckt – mit solchen Scheinen versuchten Stadtkämmerer 1922/23 den freien Fall zu manövrieren. Die größten Noten mit den Billionen-Werten hängte ich Anfang der 1980er Jahre an die Wände meines ersten Studentenzimmers. Ich fand das schick, meine Freunde seltsam.
Wieder die Frage: Ist es heute ähnlich? 2011 gleich 1923? Damals existierte ein riesiges Missverhältnis zwischen gigantischen Staatsausgaben für den Ersten Weltkrieg und einer sinkenden Produktion. Revolution, Streiks, Ruhrkampf – es funktionierte nicht mehr viel im Deutschen Reich. Aus diesem massiven Geldüberhang speiste sich die Hyperinflation, die die Geldersparnisse und Einkommen komplett entwertete.
Heute dagegen geht es nicht um Hyperinflation, sondern um Inflationsraten von vielleicht fünf oder sechs Prozent. Auch das wäre nicht schön, lässt aber nicht zwei Drittel der Bevölkerung verarmt zurück. Die vermeintliche Gefahr der Hyperinflation ist tatsächlich keine, weil wir als Europäer im stärksten Wirtschaftsblock der Welt leben. Zusammen verfügen die 27 Staaten über eine gemeinsame Jahreswirtschaftsleistung von rund 12.700 Milliarden Euro – mehr als die USA, weit vor China. Die Produktion läuft, Millionen Fahrzeuge und Maschinen verlassen die Bänder. Zwar steigt derzeit die Geldmenge, aber ihr steht eine so große Produktionskraft und Gütermenge gegenüber, dass die Kaufkraft des Euro sichtbar und greifbar bleibt.
Diese Stärke besitzt Europa allerdings nur gemeinsam – mit Griechenland, Irland und Italien. Europa und die Euro-Zone sind nicht nur ein Markt für deutsche Produkte. Der Austausch zwischen den 27 Staaten erzeugt Anregung, Streit, Wettbewerb, Verständigung, Kreativität, gegenseitiges Lernen und bietet damit beste Voraussetzungen, dass wir zusammen leistungsfähig, lebendig und interessiert bleiben. Wo gibt es eine solche Hausgemeinschaft der Staaten sonst auf der Welt? Leute, der Euro rockt!
Wenn es also nicht um Sein oder Nichtsein unserer Währung geht – was ist dann der Kern der augenblicklichen Krise? Die Europäer, nicht nur die Griechen, auch die Deutschen, leben seit Jahrzehnten über ihre Verhältnisse. Hinter den Schulden liegt ein größeres Problem. Das Wirtschaftswachstum hält nicht Schritt mit unseren steigenden Ansprüchen als Gesellschaft. Während in den meisten Industrieländern die Wachstumsraten sinken, sind Politik und öffentlicher Diskurs immer noch darauf angelegt, ein Mehr an Wohlstand und sozialer Absicherung erreichen zu wollen. Ständig ist im Bundestag die Rede davon, wir müssten aus den Schulden „herauswachsen“. Die Hartz-Gesetze ändern nichts daran: Die Deutschen insgesamt hoffen und wünschen, dass es ihnen morgen materiell besser gehen möge als heute. Diese Diskrepanz zwischen ökonomischer Wirklichkeit und kollektivem Anspruch hat dazu geführt, dass die Regierungen einen Zuwachs verteilen, der nicht erwirtschaftet wird. Die von Merkel, Schäuble und Rösler geplante Steuersenkung ist das beste Beispiel. So entsteht Verschuldung.
Und auch der Sozialstaat ist ein Rad in dieser Maschine. Es gibt immer Armut zu bekämpfen, soziale Benachteiligung auszuräumen und Risiken abzufedern. Alter, Pflege, Bildung, Antidiskriminierung, Integration, Kinderschutz, Grundrente – für tausend wirklich sinnvolle Dinge möchten Politiker und Bürger Geld ausgeben. Aber auch Sozialausgaben müssen sich an dem bemessen, was eine Gesellschaft erarbeitet. Wobei in Deutschland verschärfend hinzukommt, dass die Regierung die Gutverdiener zu wenig an der Finanzierung gemeinschaftlicher Aufgaben beteiligt. Die deutsche Verschuldung liegt auch deshalb über zwei Billionen Euro, weil die Steuern für Wohlhabende so niedrig sind.
Obwohl linke KommentatorInnen gerne das Gegenteil schreiben: Merkel hat Recht, wenn sie Europa eine Sparpolitik aufdrückt, die auch in Deutschland bisher nicht praktiziert wird. Zwei Einschränkungen: Schulden sind nicht grundsätzlich schlecht, sie dürfen nur nicht zu hoch sein. Und Sparen alleine reicht nicht. Denn diese Art der Sanierung dauert zehn Jahre oder mehr. Was passiert bis dahin?
Das haben wir im vergangenen Jahr erlebt. Bundesregierung und Bundesbank machen auf geizig. Höchstens 22 Milliarden für Griechenland, höchstens 211 Milliarden für die Euro-Rettung! Kein Cent mehr. Das sind die Ansagen aus Berlin und Frankfurt. Die Manager der amerikanischen Pensionsfonds rechnen kurz nach und stellen fest: Diese Summen sind zu klein, um Italien und den Euro insgesamt zu schützen. Die Krise geht weiter, weil die Investoren darauf spekulieren, dass das jeweils begrenzte Volumen auch großer Hilfspakete nicht ausreicht.
Deshalb brauchen wir eine unbegrenzte Garantie für den Euro und seine Mitglieder, die nur die Europäische Zentralbank aussprechen kann. Das heißt nicht, dass Deutschland auf ewig die Steuern in Athen und die Müllabfuhr in Neapel bezahlt. Wir müssen aber so tun, als seien wir dazu bereit. Die Bundesbank als Teil des EZB-Systems sollte Großzügigkeit deklamieren, ohne dieses Versprechen einlösen zu müssen. Die Europäische Notenbank könnte den Fondsmanagern androhen, mit beliebig vielen Euro alle Staatsanleihen verschuldeter Euro-Länder zu kaufen. Das drückte die Anleihezinsen und würde die Krise beenden – hoffentlich.
Bezahlen würden diese Aktion auch die deutschen Bürger und Steuerzahler, unter anderem in Form höherer Inflationsraten, aber eben nicht mit Hyperinflation. Wobei sich viele Deutsche ihre Rolle in Europa eigentlich anders vorgestellt hatten: billiger und egoistischer. Nun stellt sich aber heraus, dass sie einerseits selbst mit weniger auskommen und gleichzeitig den anderen mehr helfen sollen – eine ziemliche Herausforderung. Und schwierig zu beantworten ist diese Frage: Warum sollen wir Solidarität üben mit den verschwenderischen Südländern, mit den attischen Steuerhinterziehern und den napolitanischen Mafiosi? Weil es in unserem eigenen Sinn ist, dieses vermutlich erträgliche Opfer zu bringen. Indem wir eine gewisse Inflation ertragen, investieren wir in unsere Zukunft. Nur als Teil von Europa und der Euro-Zone werden wir gegenüber China und den anderen aufstrebenden Mächten den Kopf oben behalten.