Lohn vom Staat

Was bedeutet das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes für den deutschen Sozialstaat? Eine Analyse von Hannes Koch

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Von Hannes Koch

09. Feb. 2010 –

Die Debatte über die kurzfristigen Auswirkungen des Urteils zu Hartz IV hat schon begonnen. Nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag fordern die Sozialverbände, die Leistungen für die Arbeitslose und deren Kinder zu erhöhen. Das könnte Milliarden Euro kosten.


Konkrete Zahlen für den Finanzbedarf einer Hartz-IV-Reform hat Michael Feil vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg bereits ausgerechnet. Wenn der Regelsatz von heute 359 Euro pro Erwachsenen auf 420 Euro stiege, bedeutete dies Zusatzausgaben von rund zehn Milliarden Euro pro Jahr. Darin eingerechnet sind die Kosten einer Kindergrundsicherung, die bei 300 Euro pro Monat läge. Heute reichen die Sätze für Kinder, deren Berechnung das Gericht bemängelt hat, von 215 bis 287 Euro.


Dass die Kosten steigen, ist freilich nicht sicher. Das BVG hat zwar die Verpflichtung des Staates hingewiesen, seinen Bürger ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten. Wie die Parlamente und Regierungen diesen Anspruch umsetzen, steht allerdings auf einem anderen Blatt. So sagte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Dienstag, Ausgaben für die Bildung von Kindern müssten in die Berechnung einbezogen werden. Das kann zwei Auswirkungen haben: Entweder kommen zusätzliche Ausgaben hinzu, oder bereits bisher gewährte Sachleistungen wie etwa die kostenlosen Schulbücher für Kinder aus Hartz-IV-Familien werden in die Leistungen einberechnet. Ergebnis: kein zusätzlicher Finanzaufwand. Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) weist außerdem daraufhin, dass das Urteil des BVG auch rechtfertigen würde, einzelne Posten der Unterstützung zu verringern. So gäben viele Bundesbürger dank günstiger Tarife heute weniger Geld für Telefon und Internet aus als noch vor ein paar Jahren.


Wenn das Arbeitslosengeld II für Kinder und Erwachsene allerdings zunehmen sollte, würde sich eine große Herausforderung für das bisherige Sozialsystem stellen. Zentral für die Berechnung der staatlichen Unterstützung sind heute das Existenzminimum und das gesetzliche Lohnabstandsgebot. Letzteres besagt, dass das Arbeitslosengeld II so knapp bemessen sein muss, dass die Empfänger ein materielles Interesse daran behalten, sich eine Arbeit zu suchen. Dieser Grundsatz wird auch durch steigende Sozialleistungen zunehmend in Frage gestellt.


Schon heute gelingt es Millionen Beschäftigten nicht, mit ihrer Arbeit mehr Geld zu erwirtschaften als Hartz IV. Wenn beispielsweise eine verheiratete Frau mit zwei Kindern als Gärtnerin, Zeitarbeiterin oder Gebäudereinigerin acht Euro brutto pro Stunde oder gut 1.200 Euro monatlich verdient, steht sie sich mit Arbeitslosengeld II besser. Steigen nun die garantierten Sozialleistungen, wird der Bereich noch größer, in dem der Staat Armutslöhne bezuschussen muss. Die Zahl der Beschäftigten, die von einer Kombination aus eigener Arbeit und staatlicher Unterstützung leben, steigt. Der Kombilohn, ein zum Teil staatlich finanziertes Erwerbseinkommen, wird zum Normalfall.


Wer das nicht will, muss über grundsätzliche Eingriffe in die Marktwirtschaft nachdenken. Wie kann man verhindern, dass die Löhne besonders im Dienstleistungssektor weiter fallen? Die Politik müsste flächendeckende Mindestlöhne einführen. Und DIW-Forscher Brenke fordert, die staatliche Bezuschussung von Niedriglöhnen etwa in Form der Minijobbs zu beenden. Dann würden die Unternehmen automatisch höhere Gehälter zahlen. „Die Betten in den Hotels müssen ja gemacht werden – so oder so“, sagt Brenke.


Aber stimmt diese These? Finden sich nicht immer Immigranten, Erwerbslose und Schulabbrecher, die fast jede Arbeit zu fast jedem Preis machen? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort „Ja“ lautet, ist in einer globalisierten Ökonomie mit relativ offenen Grenzen ziemlich hoch. Dann bleibt dem Sozialstaat nichts anderes übrig, als hinzunehmen, dass er das Existenzminimum von rund 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung in Form von Lohnzuschüssen und anderen staatlichen Transfers garantieren muss.

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