Merkel akzeptiert auch eine Wahrscheinlichkeitsrechung

Die deutsche Kanzlerin wird bis zur letzten Minute über den Kompromiss mit Athen verhandel

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Von Hannes Koch

24. Jun. 2015 –

Bloß kein griechisches Drama aufführen – das ist die Einstellung der deutschen Bundeskanzlerin. Während andere im Euro-Gipfel am Montagabend bereits das große Finale sahen, formulierte Angela Merkel einige Stunden vorher wieder einen ihrer unaufgeregten, alltäglichen Sätze: „Es gibt ja in dieser Woche auch noch viele Tage Zeit, um gegebenenfalls Entscheidungen zu treffen."

 

Nur noch eine Woche bis zum Staatsbankrott in Athen? Ach was. Bis zum 30. Juni werden knapp 200 Stunden vergehen, in denen sich viele Probleme lösen lassen. Und komplizierte Angelegenheiten zu bewältigen, ist Merkels liebste Tätigkeit. So etwas spornt sie an, das betrachtet sie als ihre eigentliche Aufgabe. Für das von Tag-zu-Tag-, Woche-zu Woche- und Monat-zu-Monat-Regieren steht ein weiterer Merkel-Satz, den sie zuletzt mehrfach verwendete: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“

 

Wobei Merkels Griechenland-Politik keinesfalls wertfrei ist. Ihre grundsätzliche Haltung bewegt sich zwischen ihrem Gespür für Europa und einem pädagogischen Fiskalismus. Als Kind der DDR kennt sie einerseits die herausragende Bedeutung von demokratischer Freiheit, Menschenrechten und Wohlstand. Sie begreift das gemeinsame Europa als Wertegemeinschaft zur Verteidigung dieser Errungenschaften gegen Wirtschaftsmächte wie China. „Der Euro war immer weit mehr als eine Währung“, sagte Merkel in ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am vergangenen Donnerstag. So betrachtet ist sie bereit, anderen Euro-Regierungen ziemlich weit entgegenzukommen.

 

Andererseits vertritt die Kanzlerin eine etwas simple Nationalökonomie. Deren wichtigster Bestandteil ist das Denken der sogenannten schwäbischen Hausfrau. Demnach sollte man nur das Geld ausgeben, das man einnimmt - eine Logik, die für Hauswirtschaften richtig sein mag, nicht aber für einen Staat wie Deutschland, der die viertgrößte Wirtschaftsleistung weltweit erbringt. Hinzu tritt der Egoismus des Starken nach dem Motto: Was für uns richtig ist, kann für andere nicht falsch sein. In diesem Sinne setzte die deutsche Kanzlerin einen Sparpakt durch, den Kritiker in Anspielung auf die Sozialreformen von Merkels Vorgänger Gerhard Schröder als „Hartz IV für Europa“ beschreiben.

 

„Leistung gegen Gegenleistung, Solidarität gegen Eigenverantwortung“, lautet die Formel, in die die deutsche Regierungschefin ihr Bekenntnis kleidet. Nicht nur Griechenland, auch Irland, Portugal, Spanien und Zypern hätten Milliarden-Hilfen der übrigen Euro-Staaten erhalten, im Gegensatz zu Athen allerdings ihre Hausaufgaben gemacht. Auf ähnliche Strukturreformen beharrt Merkel jetzt abermals. Vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras will sie ein glaubhaftes Bekenntnis zur Sanierung seines Staatshaushaltes erhalten. Ob die Einnahmen durch eine höhere Mehrwertsteuer oder Privatisierungen staatlichen Eigentums steigen und die Ausgaben mittels einer Rentenreform oder sonstiger Sparmaßnahmen sinken, ist ihr ziemlich egal. Sie möchte am Ende der Verhandlungen nur konkrete Zahlen addieren können und sehen, dass das Ergebnis stimmt – der griechische Staatshaushalt einen Primärüberschuss ausweist.

 

Diese Härte meint Merkel auch zeigen zu müssen, um zu Hause den Laden zusammenzuhalten. Denn in der deutschen Bevölkerung greift die Unzufriedenheit mit Europa um sich. Das deutlichste Zeichen: Die Europa-kritische Partei Alternative für Deutschland sitzt mittlerweile in mehreren Landtagen. Und auch in der Fraktion von CDU und CSU im Bundestag grummelt es wegen der vermeintlichen Geschenke zugunsten Griechenlands. Die Kanzlerin will nicht riskieren, dass die Zahl der Gegenstimmen in den eigenen Reihen zu sehr steigt. Das deutsche Parlament muss dem etwaigen Kompromiss mit Griechenland spätestens am nächsten Dienstag zustimmen, wenn er in wesentlichen Punkten von der bisherigen Vereinbarung abweicht.

 

Dies ist die Merkel-Sicht. Allerdings ist die Berliner Regierungschefin nicht so mächtig, wie es manchmal den Anschein hat. Die drei Institutionen, die früher „Troika“ hießen, stehen ja nicht unter der Befehlsgewalt des Bundeskanzleramtes. Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bitten Merkel nicht um Erlaubnis. Sie wissen zwar, dass gegen ein klares Nein Deutschlands nichts geht, aber sie verfügen über Verhandlungsmacht.

 

Darüber ist sich auch die Kanzlerin im Klaren, wie sie am Montag betonte: „Für uns ist das Votum der drei Institutionen natürlich von großer Bedeutung und die Voraussetzung, um überhaupt zu überlegen, ob man etwas entscheiden kann.“ Wenn das grüne Licht dann wirklich kommen sollte, wird Merkel nicht Nein sagen - auch wenn der Plan keine Addition, sondern eher eine Wahrscheinlichkeitsrechnung beinhaltet.

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