„Merkel will Atomkraft bis weit nach 2050“

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin im Interview über Atomkraft, die grüne Regierungsbeteiligung und die Chancen einer neuen Rechtspartei

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Von Hannes Koch

05. Sep. 2010 –

Hannes Koch: Wenn die Bundesregierung die Laufzeiten der Atomkraftwerke tatsächlich um zehn bis 15 Jahre verlängern würde - wann ginge dann das letzte Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz?


Jürgen Trittin: Wahrscheinlich weit nach 2050. Auch unsere Kinder und Enkel hätten dann noch mit dieser gefährlichen Technologie zu tun.


Koch: Die Regierung redet nur über ein Jahrzehnt. Wieso prognostizieren Sie einen viel längeren Zeitraum?


Trittin: Von den alten Atomkraftwerken könnten die Betreiberfirmen Strommengen auf neuere Anlagen übertragen. Einzelne Meiler dürften dann noch mehrere Jahrzehnte Strom produzieren. Würde die Bundesregierung allerdings eine solche Entscheidung treffen, so landete diese hundertprozentig vor dem Bundesverfassungsgericht. Selbst Gutachter der Regierung unterstreichen, dass der Bundesrat, in dem Schwarz-Gelb keine Mehrheit hat, beteiligt werden müsste - was die Regierung ablehnt.


Koch: Belegen die Energieszenarien, die Kanzlerin Merkel, Wirtschaftsminister Brüderle und Umweltminister Röttgen am Wochenende abermals diskutiert haben, die Notwendigkeit längerer Laufzeiten?


Trittin: Nein, sie belegen das Gegenteil. Die Gutachten sagen, dass längere Laufzeiten nicht mehr, sondern weniger Energiesicherheit bedeuten. Deutschland müsste bald Strom aus dem Ausland importieren, weil der Ausbau der Erneuerbaren Energien gebremst würde. Der langsamere Zuwachs der sauberen Energiequellen bedeutete auch, dass die Bundesregierung eine Zukunftsbranche, in der Deutschland heute Weltmarktführer ist, massiv schädigte.


Koch: Bei der Verlängerung der Laufzeit der AKW kann sich die Regierung auf die verbreitete Angst vor dem Klimawandel berufen. Haben sich die Grünen in ihrer strikten Ablehnung längerer Laufzeiten verrannt?


Trittin: Längere Laufzeiten senken kein Gramm Treibhausgase. Und mehrheitlich ist die Bevölkerung gegen längere Laufzeiten.


Koch: Neuen Umfragen zufolge scheint die Ablehnung der Atomkraft aber nicht mehr so stark ausgeprägt zu sein wie vor 20 Jahren.


Trittin: Die Ablehnung der Atomkraft in der Bevölkerung wird selbst durch interessegeleitete Umfragen bestätigt. Die Menschen haben verstanden, dass wir die risikoreichen Atomkraftwerke für die Sicherheit unserer Energieversorgung nicht brauchen. Schon heute exportiert Deutschland Strom.


Koch: Die Positionierung der Grünen gegen längere Atomlaufzeiten und das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 führen dazu, dass ihre Umfragewerte steigen. Mit welchem Koalitionspartner wollen Sie nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2011 Ihren gewachsenen Einfluss in Regierungsmacht umsetzen?


Trittin: Wichtig ist zunächst dies: Wenn es Union und FDP in Baden-Württemberg nicht gelingt, ihre komfortable Mehrheit zu verteidigen, ist das Ende der Kanzlerschaft von Frau Merkel eingeleitet. Zur Zeit hat diese Konstellation in Baden-Württemberg in Umfragen keine Mehrheit sondern Rot-Grün - ein Novum. Das hat auch damit zu tun, dass die Union für den Abriss des alten Bahnhofs und für den Neubau von Stuttgart 21 plädiert. In Baden-Württemberg wenden sich die Grünen als einzige Partei gegen die Zerstörung eines Baudenkmals, das die Stadt bis heute prägt.


Koch: Trotzdem fehlt Ihnen die Machtoption. Sowohl Union als auch SPD befürworten Abriss und Neubau des Bahnhofs. Können Sie sich vorstellen, dass die Grünen ihre Gegnerschaft aufgeben?


Trittin: Nein, die Grünen wollen den sofortigen Baustopp. Dann soll über die Frage des Neubaus durch die Bürger entschieden werden. Danach würde die politische Lage ganz anders aussehen.


Koch: Diese Strategie beinhaltet viel Hoffnung. Weder ein Baustopp ist absehbar, noch ein Meinungswechsel der SPD.


Trittin: Ich bin da nicht so pessimistisch. CDU wie SPD werden sich den Protesten breiter Bevölkerungsschichten auf Dauer kaum verschließen können.


Koch: Mit Grünen und Linken hat sich das Parteienspektrum ausdifferenziert. Zeigt die Debatte über das Buch von Thilo Sarrazin nun, dass auch die Gründung einer neuen, rechtspopulistischen Partei bevorstehen könnte?


Trittin: Sarrazin und sein Promoten durch fast alle Medien haben offenbart, dass es ein Potential für rechten Populismus auch in Deutschland gibt. Jede rechtspopulistische Partei aber hat in Deutschland ein Problem. Sie muss sich abgrenzen von den Neonazis.


Koch: Schleift sich dieses Tabu nicht allmählich ab?


Trittin: Sarrazin behauptet, Armut sei ein biologisch begründeter und vererbbarer Defekt. Er hat es damit in der Tat geschafft, erbbiologische und eugenische Vorstellungen wieder hoffähig zu machen. Dazu hat auch ein völlig besinnungsloser Medienbetrieb beigetragen, indem er die Vermarktung seines Buches nach Kräften förderte


Koch: Müssen wir also damit rechnen, dass demnächst auch in Deutschland eine Formation entsteht wie Blochers SVP in der Schweiz oder Wilders´ PVV in Holland?


Trittin: Das ist nicht ausgeschlossen. Aber, als Sarrazin begann, über die vermeintlichen genetische Besonderheiten von Juden zu reden, war genau die Grenze überschritten.. Wegen unserer besonderen Geschichte herrschen in Deutschland andere Bedingungen als in der Schweiz oder Holland.


Koch: Die Gründung einer populistischen Partei in Deutschland scheiterte bislang auch am Mangel an Köpfen. Mit Sarrazin, Roland Koch (CDU), Wolfgang Clement (ehemals SPD) oder dem grünen Aussteiger Oswald Metzger bieten sich nun jedoch potenzielle Führungspersonen an.


Trittin: Nicht jeder Narziss ist gleich ein Populist. Im übrigen sind diese Herren samt und sonders ausgewiesene Sparpolitiker, die predigen, den Gürtel enger zu schnallen. Das ist weder populär noch populistisch.


Kasten

Jürgen Trittin (56) ist Fraktionschef der Grünen im Bundestag. Von 1998 bis 2005 war er Bundesumweltminister. Damals verhandelte er mit den Konzernen den noch geltenden Atomausstieg, wonach etwa 2022 das letzte deutsche Atomkraftwerke abgeschaltet würde.

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