Mindestlohn-Ausnahmen bleiben begrenzt
Zwei Drittel der Niedrigverdiener werden den Mindestlohn bekommen. Ver.di-Chef Bsirske korrigiert Kritik an Arbeitsministerin Nahles
30. Jun. 2014 –
Die Gesetze zum Mindestlohn sind fast fertig. Am Montagabend musste sich Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) aber nochmal mit den Spezialisten der Union- und SPD-Fraktion zusammensetzen. Trotzdem soll der Bundestag am Donnerstag beschließen, dass erstmals in Deutschland für Millionen Beschäftigte eine gesetzliche Lohnuntergrenze gilt. Unsere Zeitung beantwortet die wichtigsten Fragen.
Wer profitiert vom Mindestlohn?
Alle abhängig Beschäftigten haben ab Anfang 2015 das Recht, mindestens 8,50 Euro brutto pro Arbeitsstunde zu verdienen. Grundsätzlich profitieren könnten davon insgesamt 6,6 Millionen Menschen, die heute weniger Lohn erhalten, hat das Institut für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen ausgerechnet. Allerdings gibt es Ausnahmen vom Mindestlohn-Gesetz. Tatsächlich erhalten laut Arbeitsministerium deshalb ab 1. Januar nächsten Jahres zunächst 3,7 Millionen Arbeitnehmer eine bessere Bezahlung.
Steigen auch die Tarifgehälter?
Ja, aber in diesen Fällen gibt es Übergangsregelungen. Haben Unternehmen und Gewerkschaften Mindestlohn-Tarife ausgehandelt, brauchen sie die Lohnuntergrenze erst bis Ende 2016 auf 8,50 Euro anzuheben. Beispiele dafür sind die Fleischindustrie und das Friseurgewerbe. In den Genuss dieser langsamen Erhöhung kommen hundertausende Beschäftigte, sagt die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung. Die Zahl der Arbeitnehmer, die wegen der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns schließlich mehr Geld bekommen, dürfte deshalb insgesamt weit über vier Millionen liegen.
Für welche Tätigkeiten gilt der Mindestlohn nicht?
Laut Arbeitsministerium sind unter anderem Jugendliche unter 18 Jahren ausgenommen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Weitere Ausnahmen gelten für die Auszubildenden, Leute, die verpflichtende Schul- und Studienpraktika absolvieren, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten einer neuen Tätigkeit und Menschen, die ehrenamtliche Arbeit leisten.
Gibt es jetzt zusätzliche Ausnahmen?
Arbeitsministerin Nahles sagt „Nein“. Aber das stimmt nicht ganz. Die Zahl der Arbeitnehmer, die vorläufig kein Recht auf den vollen Mindestlohn haben, wird noch einmal steigen. Das ist das Ergebnis des Drucks einzelner Branchen auf die Bundestagsfraktionen. So haben die Zeitungsverleger offenbar eine Extra-Regelung für ihre Zusteller durchgesetzt, die die Zeitungen in die Briefkästen der Haushalte stecken. 2015 erhalten diese voraussichtlich noch einen um 25 Prozent verringerten Mindestlohn, 2016 darf die Untergrenze 15 Prozent unter 8,50 Euro liegen. Ab 2017 soll es dann keine Ausnahme für die Zeitungszusteller mehr geben. Allerdings laufen hier die Verhandlungen mit dem Arbeitsministerium noch. Praktikanten können neuerdings wohl bis zu drei Monaten mit weniger als 8,50 Euro bezahlt werden – bisher wollte man die Grenze bei sechs Wochen ziehen.
Wie sieht es für die Landwirtschaft aus?
Laut Arbeitsministerium wird es für Saisonarbeiter und Erntehelfer in der Landwirtschaft keine Ausnahme geben. Die 8,50 Euro müssten ab 1. Januar 2015 gezahlt werden – es sei denn die Branche einige sich noch auf einen Tarifvertrag mit Übergangsregelung bis Ende 2016. Um einen Kompromiss zu ermöglichen, will Nahles den Agrarlobbyisten an anderer Stelle entgegenkommen: Statt bisher 50 Tage sollen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft künftig 70 Tage pro Jahr sozialabgabenfrei arbeiten dürfen.
Hat Gewerkschaftschef Frank Bsirske Recht?
Am Wochenende behauptete Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, drei Millionen Beschäftigten wolle die Regierung mit ihren Ausnahmen den Mindestlohn verweigern. Mittlerweile hat er seine Aussage auf „zwei bis 2,5 Millionen“ korrigiert. Zwei Millionen erscheinen realistisch. Die Ausnahmen betreffen rund eine Million Langzeitarbeitslose, 500.000 Auszubildende und 160.000 Zeitungszusteller. Hinzu kommen manche Praktikanten und einige weitere Gruppen. Unter dem Strich dürfte der Mindestlohn damit für etwa zwei Drittel derjenigen gelten, die heute noch weniger als 8,50 Euro pro Stunde erhalten.