Mr. Bierdeckels Versprechen

Friedrich Merz musste sein Steuerkonzept von 2003 niemals umsetzen. Heute hätte es wohl wenig Chancen.

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Von Hannes Koch

06. Dez. 2018 –

Es war ein Heilsversprechen – einleuchtend, leicht zu verstehen, mit großer Wirkung. Friedrich Merz, der Ende dieser Woche CDU-Vorsitzender und später vielleicht Kanzlerkandidat werden will, feierte damit vor 15 Jahren große Erfolge.

Wenige Worte reichten: Steuererklärung auf dem Bierdeckel. Die Idee setzte Hoffnungen in Gang: Alle zahlen weniger Abgaben an den Staat. Alle wissen genau, was sie zahlen müssen.

Ein tolles Konzept, das in seine Zeit passte. 2002 hatten SPD-Kanzler Gerhard Schröder und Grünen-Matador Joschka Fischer nochmal die Bundestagswahl gewonnen. Hartz IV entstand. Auch Rot-Grün wollte die Steuern für Unternehmen und Privatleute senken. „Neoliberalismus“ war Zeitgeist und Schimpfwort zugleich. Die CDU brauchte ein konkurrierendes, schärferes Modell, um sich von der Regierung abzuheben.

Ein toller Hecht war Friedrich Merz, weil es ihm gelang, aus dieser Lage einen kampagnenfähigen Vorschlag zu entwickeln. Auch weil man sich daran erinnert, bekommt er jetzt überhaupt nochmal eine Chance auf ein Spitzenamt. Und sein Konzept von damals – hat das heute auch wieder Aussichten?

Der Parteitag der CDU am 2. Dezember 2003 in Leipzig beschloss es einstimmig, mit großem Applaus und stehenden Ovationen. In seiner Rede versprach Merz, dass die Bürger „sehr einfach, etwa auf einem Bierdeckel, ausrechnen können, wie hoch ihre Steuerschuld ist“.

Dieser Zeitung liegt nun ein Pappdeckel vor, den Merz während einer CDU-Veranstaltung im Gespräch mit einer Journalistin damals persönlich beschriftete. Auf Anfrage kann sich der CDU-Politiker nicht eindeutig erinnern, zieht die Echtecht des Deckels aber nicht in Zweifel. Die Zahlen sind so zu lesen: Eine Familie mit vier Personen hat beispielsweise ein Einkommen von 60.000 Euro jährlich. Nach wenigen Rechenschritten weiß sie, dass sie 5.280 Euro Abgaben entrichten muss - fertig.

Merz´ grundsätzliche Idee bestand darin, die meisten Steuervergünstigungen, Ausnahmen, Freibeträge abzuschaffen und den allmählich ansteigenden Steuertarif durch drei klare Stufen zu ersetzen: 12 Prozent Einkommensteuer bis 16.000 Euro, 24 Prozent bis 40.000 Euro, darüber 36 Prozent.

Ökonom Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin rechnete damals aus, was das bedeutete. Etwa zwei Drittel der bundesdeutschen Steuerzahler, 20 Millionen Bürger, hätten weniger Abgaben entrichtet als vorher. Leute mit kleinen Einkommen sparten ein paar hundert Euro pro Jahr, Haushalte mit mittleren und höheren Gehältern (bis 250.000) dagegen einige tausend Euro – eine soziale Unwucht. Zusätzliche Belastungen wären auch auf Arbeitnehmer zugekommen, weil beispielsweise die Freibeträge für Feiertags- und Nachtzuschläge weggefallen wären. Reiche Haushalte ab 500.000 Euro hätten allerdings mehr Steuern zahlen müssen.

Eine andere Schlagseite des Modells: massive Einnahmeausfällen zu Lasten des Staates. Auf bis zu 28 Milliarden Euro jährlich hätten die Finanzminister verzichten müssen. Die potenzielle Einbuße im Bundeshaushalt betrug etwa fünf Prozent aller Ausgaben. Öffentliche Aufwendungen für Bildung, Polizei oder Straßenbau standen zur Disposition. Denn auf ein solides Konzept der Gegenfinanzierung hatte Friedrich Merz verzichtet.

Der CDU-Finanzpolitiker kam jedoch niemals in die Gefahr, sein Modell umsetzen zu müssen. Ein Jahr nach dem Leipziger Parteitag trat er vom Amt des Fraktionsvize im Bundestag zurück. Könnte sein Konzept dennoch heute wieder verfangen?

Auf dem politischen Markt ist eine radikale Steuerreformen derzeit jedenfalls nicht. Eher in der Diskussion sind kleine Änderungen wie die Abschaffung des Solidaritätsbeitrages. Auch unterscheidet sich die öffentliche Stimmung von 2003. Wegen der guten Wirtschaftslage profitiert der größte Teil der Bürger jetzt von steigenden Verdiensten. Steuersenkungen sind nicht so relevant. Außerdem begrüßen viele, dass der Staat endlich mal wieder Geld ausgeben kann, um Schulen zu renovieren, Lehrer und Polizisten einzustellen. Und die CDU erinnert sich daran, dass sie im Bundestagswahlkampf 2005 mit einem Merz-mäßigen Steuerkonzept – der Urheber hieß Paul Kirchhof – ziemlich baden ging.

Ob Merz selbst von seinem Heilsversprechen geheilt ist, weiß man nicht. Einerseits sagte er in einem Interview: „Ich glaube immer noch, dass wir eine Vereinfachung im Steuerrecht brauchen. Sie ist möglich. Aber der ganz radikale Umbau ist heute nicht realistisch. Wir leben in einer hochkomplexen Welt.“ Dann wieder betonte er, man müsse „auf einem modernen Bierdeckel seine Steuerschuld ausrechnen“ können. „Der neue Bierdeckel ist eine Steuer-App für das Smartphone.“

Zum Foto: Auf diesem Bierdeckel hat Friedrich Merz 2004 persönlich die Steuer einer vierköpfigen Familie ausgerechnet. Die Kalkulation: Vom Jahreseinkommen – 60.000 Euro - wird für jede Person ein Freibetrag von 8.000 Euro abgezogen, insgesamt 32.000 Euro. Bleiben noch 28.000 Euro zu versteuern. 12.000 davon werden mit 12 Prozent versteuert, die übrigen 16.000 mit 24 Prozent. Macht 5.280 Euro Abgaben. Allerdings hat Merz sich in der Eile des Gesprächs möglicherweise verrechnet. Gemäß seines eigenen Konzeptes hätte er eigentlich 12 Prozent für die ersten 16.000 Euro und 24 Prozent für die übrigen 12.000 Euro Einkommen ansetzen müssen.

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