Niedriglöhne verursachen Schaden

Mindestlohn, ja bitte. Union und SPD sollten aber differenzierte Lohnuntergrenzen für Regionen und Branchen beschließen

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Von Hannes Koch

25. Okt. 2013 –

2,84 Euro Stundenlohn sollte der Angestellte eines Computerhandels im brandenburgischen Lübbenau verdienen. Der 52jährige Arbeitslose nahm die Stelle trotzdem an und machte seinen Job. Nicht er rebellierte gegen seine Arbeitsbedingungen, sondern das Jobcenter, das ihm aufstockendes Arbeitslosengeld zahlte, klagte schließlich gegen die sittenwidrig niedrige Bezahlung. Mindestens zwei Drittel des tariflichen oder ortsüblichen Lohns sollen Beschäftigte erhalten, urteilte das Arbeitsgericht. Der Arbeitgeber musste nachzahlen.

 

Um solche Fälle geht es, wenn Linke, Grüne, Sozialdemokraten, der Arbeitnehmerflügel der Union und Gewerkschafter dafür plädieren, eine gesetzliche und verbindliche Lohnuntergrenze in Deutschland einzuführen. Union und SPD verhandeln darüber nun in ihren Koalitionsgesprächen. Die andere Seite – unter anderem Industrieverbände, das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, die FDP - wendet trotz der offensichtlichen Brutalität mancher Arbeitsverhältnisse ein, dass der Mindestlohn Firmen überfordere und das Wachstum dämpfe. Ist das nur Ideologie oder steckt in solchen Hinweisen noch ein Funken Rationalität?

 

Drei grundsätzliche Argumente lassen sich anführen, um die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn zu begründen. Erstens: Im internationalen Recht sind soziale Grundrechte verankert, die auch für Deutschland gelten. Demnach sollen Arbeitnehmer mit ihrem Lohn ein menschenwürdiges Leben finanzieren können. Dazu gehört, dass das Geld ausreicht, um die Grundbedürfnisse des Beschäftigten und seiner Familie zu decken. Diese sogenannte Kernarbeitsnorm der Internationalen Arbeitsorganisation wird hierzulande oft genug missachtet. 2,84 Euro pro Stunde: Mit Glück reicht dieses Geld für ein paar Schnitzel oder einen Laib Brot plus Butter. Aber selbst die Miete zahlen, Busfahren, Schuhe erwerben? Von derartigen Luxusgütern konnte der Billigarbeiter nur träumen.

 

Zweitens: Niedrig- und Niedrigstlöhne verletzen das Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen und eines Teils der Öffentlichkeit, wenn sie beispielsweise im deutlichen Widerspruch zur allgemeinen materiellen Lage stehen. Dies ist im Augenblick der Fall. Deutschland geht es im Großen und Ganzen gut. Die Wirtschaft läuft, es wird Geld verdient, von einigen auch sehr viel. Die Gesellschaft insgesamt wird wohlhabender. Mehrere Millionen Beschäftigte jedoch profitieren nicht vom allgemeinen Aufwärtstrend. Sie sind abgehängt. Dieser Widerspruch lässt das Vertrauen in die Wirtschafts- und Sozialordnung erodieren. Tut man nichts dagegen, laufen dem Staat die Bürger weg, zunächst vielleicht nicht viele, mit der Zeit aber immer mehr.

 

Drittens: Armut kostet Wirtschaftswachstum. Wenn rund fünf Millionen Arbeitnehmer in Deutschland weniger als den jetzt diskutierten Mindestlohn von 8,50 Euro verdienen, fehlt ihnen das Geld, um zu konsumieren. Sie kaufen viel weniger ein, als sie möchten. Der Wirtschaft gehen auf diese Art Milliarden Euro an Nachfrage verloren, damit auch Umsatz und Gewinne. Indem sie Armut und Niedriglöhne toleriert, verzichtet eine Volkswirtschaft ebenso auf Investitionen, Produktivitätssteigerung und Arbeitsplätze. Armut und Niedriglöhne verursachen wirtschaftlichen Schaden.

 

Wie können die Gegner des Mindestlohns dann das Gegenteil behaupten – dass eine gesetzliche Lohnuntergrenze Arbeitsplätze und Wachstum kostet? Sie unterstellen, dass die Firmen, die Billigarbeiter beschäftigen, diese Stellen streichen, anstatt die Bezahlung auf das Niveau des Mindestlohnes zu erhöhen. Diese These muss jedoch nicht eintreffen, die Firmen könnten stattdessen die Preise anheben. Damit gäben sie ihre durch den Mindestlohn gestiegenen Kosten an die Verbraucher weiter. Wären die Konsumenten aber bereit, die höheren Preise zu zahlen? Wenn nein – müssten manche Betriebe nicht doch die neuerdings zu teueren Angestellten entlassen oder auf billige 400-Euro-Jobs degradieren?

 

Auch diese Logik ist nicht von der Hand zu weisen. In welche Richtung das Pendel ausschlägt – ökonomischer Nutzen oder Schaden – ist kaum theoretisch, sondern eher praktisch zu klären. Man muss es ausprobieren. Ein Beispiel: Kann ein Friseur im mecklenburg-vorpommerschen Pasewalk den Lohn seines Mitarbeiters von 5,50 auf 8,50 Euro erhöhen, wenn der Herrenschnitt dann statt sieben bald zehn Euro kostet? Bezahlen das die Arbeitslosen dort, die trotz Mindestlohn immer noch arbeitslos sind und nicht mehr Geld haben als vorher?

 

Ob der Mindestlohn ein Jobkiller oder ein Jobstifter wird, hängt von seiner Höhe ab. In Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg sind die Kunden an andere Preise gewöhnt als in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt. Wahrscheinlich muss man die Lohnuntergrenze regional differenzieren – auch nach Branchen. Vielleicht sollte man bei den Friseuren vorsichtiger sein, als im Einzelhandel, wo viele größere Geschäfte höhere Lohnkosten leichter wegstecken.

 

Statt eines gesetzlichen Mindestlohnes für ganz Deutschland sollte man ein System von mehreren Untergrenzen entwerfen. Zu viele dürfen es nicht sein, damit das System nicht zu unübersichtlich und kompliziert wird. Kein Fehler wäre es vermutlich, den Rat einer Kommission aus Unternehmen, Gewerkschaften und Wirtschaftsforschern einzuholen. Entscheiden über die Höhe der Mindestlöhne aber sollten die Bundesregierung und der Bundestag. Denn die Formulierung von Gesetzen gehört in die Verantwortung der Politik.

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