„Ohne Einwanderer geht Wohlstand verloren“

Deutschland brauche dringend Fachkräfte aus dem Ausland, sagt Reiner Klingholz, der Chef des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. „Zuwanderung animiert den Wettbewerb“

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Von Hannes Koch

06. Aug. 2010 –

Hannes Koch: Viele Unternehmen würde gerne Ingenieure aus dem Ausland holen, weil sie in Deutschland zu wenige finden. Kanzlerin Merkel aber lehnt mehr Einwanderung ab. Brauchen wir ausländische Arbeitskräfte oder können wir ohne sie auskommen?


Reiner Klingholz: Schon heute benötigt Deutschland gut ausgebildete Zuwanderer – in Zukunft aber noch viel mehr.


Koch: Wenn Menschen aus fremden Ländern zu uns kommen, beschleicht manchen Einheimischen ein ungutes Gefühl. Wie antworten Sie auf solche Vorbehalte?


Klingholz: Wir Deutsche haben historisch gesehen mit Einwanderung sehr gute Erfahrungen gemacht. Berlin und Brandenburg hätten sich ohne die Hugenotten aus Frankreich viel schlechter entwickelt. Und das Ruhrgebiet war auf die Schimanskis und Koslowskis aus Osteuropa angewiesen, um zum industriellen Herz Deutschlands zu werden. Länder wie die USA, Kanada und Neuseeland profitieren massiv von der Einwanderung. Deutschland verzichtet heute leider auf diese positiven Effekte.


Koch: Welche Vorteile brächte es, Einwanderer einzuladen?


Klingholz: Zur Zeit sind 60.000 bis 70.000 Stellen für Ingenieure und Computerspezialisten in deutschen Unternehmen nicht besetzt. Die Firmen leisten deshalb weniger, als sie erwirtschaften könnten. Deshalb schaffen sie auch weniger neue Arbeitsplätze. Das heißt: Ohne gut ausgebildete Einwanderer geht uns allen Wohlstand verloren.


Koch: Wieviele Einwanderer braucht Deutschland pro Jahr?


Klingholz: Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge wird die deutsche Bevölkerung infolge des demografischen Wandels bis 2050 um rund 13 Millionen Menschen abnehmen. Und das, obwohl unter dem Strich eine jährliche Zuwanderung von 100.000 bis 200.000 Menschen einkalkuliert ist. Heute jedoch ziehen mehr Menschen aus Deutschland weg, als neu hinzukommen. Wenn die Bundesregierung so weitermacht wie bisher, trägt sie eine Mitverantwortung dafür, dass wir später in einem schönen, aber leeren Land leben.


Koch: Wir haben über drei Millionen Arbeitslose. Muss man die nicht erst einmal besser ausbilden, bevor man Migranten holt?


Klingholz: Wenn wir die Beschäftigungs- und Bildungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen einkalkulieren, haben wir sogar fünf Millionen Erwerbslose. Theoretisch ist es richtig, diese zu qualifizieren, damit sie die freien Stellen besetzen. Praktisch allerdings scheinen sich nur extrem wenige Arbeitslose für die offenen Stellen etwa beim Flugzeughersteller Airbus zu eignen. Aus einem jungen Menschen ohne Hauptschulabschluss machen sie eben keinen Triebwerksspezialisten. Und selbst, wenn es gelänge, wären dafür über zehn Jahre nötig. Die Unternehmen müssen ihre Stellen aber jetzt besetzen – sonst werden die Triebwerke anderswo gebaut.


Koch: Warum bilden wir dann nicht mehr Akademiker aus? Künftig werden auch viel mehr Frauen arbeiten als heute.


Klingholz: Richtig, die Erwerbsquote der Frauen wird steigen. Aber auch das reicht nicht aus. Denken Sie an den demografischen Wandel: mehr Alte, weniger Kinder. Wenn die erwerbsfähige Bevölkerung schrumpft, fehlen einer Hochleistungswirtschaft wie der deutschen schlicht und einfach qualifizierte Arbeitskräfte.


Koch: Könnte denn die Integration der Migranten helfen, die bereits hier leben?


Klingholz: Heute leisten wir uns, dass 20 Prozent aller Jugendlichen marginalisiert werden. Sie verlassen die Schule ohne Abschluss oder gelten als nicht ausbildungsfähig. Unter ihnen sind besonders viele Migranten. Da muss man massiv gegensteuern. Aber auch hier dauert es im besten Fall Jahre, bis aus einem Problemfall eine Fachkraft wird.


Koch: Sie akzeptieren, dass es trotz Arbeitslosigkeit auch Einwanderung geben wird?


Klingholz: Ja, und ich behaupte außerdem, dass die Zuwanderung ein sinnvoller Anreiz ist, um den Wettbewerb zu animieren.


Koch: Sie wollen die Arbeitslosen unter Druck setzen?


Klingholz: Es herrscht Globalisierung. Wer die weltweite Konkurrenz der Arbeitskräfte ausblendet, tut sich keinen Gefallen. Eine Firma wie Siemens wird sich in jedem Fall für den besseren Ingenieur entscheiden – egal wo er herkommt. Am Ende stellt sich doch die Frage: Ist die indische Fachkraft in Mumbai oder in München produktiv? Letzteres wäre besser für unsere Volkswirtschaft.


Koch: Damit nehmen Sie in Kauf, dass auch die Angst vor der Einwanderung zunimmt.


Klingholz: Nicht unbedingt. Wir müssen vermitteln, dass qualifizierte Zuwanderung viele Vorteile hat. Diese Erfahrung haben die Deutschen nach dem Anwerbestopp für Gastarbeiter nicht immer gemacht. Die Einwanderung wurde zu wenig dahingehend gesteuert, welche Qualifikationen auf unserem Arbeitsmarkt gebraucht wurden.


Koch: Welche Staaten sind heute besonders geschickt bei der Steuerung der Migration?


Klingholz: Beispielsweise Kanada und Neuseeland. Die fragen ihre Unternehmen, welche Arbeitskräfte sie brauchen und schreiben dann gezielt für diese Qualifikationen Einwanderungsquoten aus. Die Familien dürfen mitkommen. So fühlen sich die Neubürger wohl und investieren in ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Die zweite Generation asiatischer Zuwanderer in Kanada hat bereits doppelt so viele High-School-Absolventen wie der kanadische Durchschnitt. Das ist ein dramatischer Gewinn für das ganze Land.


Koch: Sollte man auch das Asylrecht zur ökonomisch motivierten Steuerung der Einwanderung nutzen?


Klingholz: Auf keinen Fall. Beim Asyl geht es um eine humanitäre Frage, und nicht um den Bedarf auf dem Arbeitsmarkt.


Koch: Kennen Sie irgendwo auf der Welt ein mit Deutschland vergleichbares Land, das prosperiert und trotzdem ohne wesentliche Zuwanderung auskommt?


Klingholz: Vielleicht Südkorea – aber nur weil es noch eine junge Bevölkerung hat. Als abschreckendes Beispiel kann man Japan heranziehen. Die dortige Bevölkerung wird extrem schrumpfen, es gibt praktisch keine Zuwanderung und die Staatsverschuldung liegt schon heute etwa beim Doppelten der Wirtschaftsleistung. Dieses Land wird ökonomisch scheitern.


Reiner Klingholz (56) leitet das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Er ist ausgebildeter Chemiker und Molekularbiologe.


Info-Kasten

Zuwanderung

Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) hat vorgeschlagen, ausländischen Fachkräften ein „Begrüßungsgeld“ zu zahlen, damit diese nach Deutschland kommen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will die Einwanderung dagegen nicht verstärken. Im Jahr 2009 kamen rund 10.000 hochqualifizierte Ausländer nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Den Bedarf der Wirtschaft deckt dieser Zuzug nicht.



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