Plötzlich digital
Extreme Bargeld-Szenarien für Deutschland
19. Jan. 2024 –
Bunte Scheine, klimpernde Münzen: Deutsche lieben Bargeld, wir sind eine Art Europameister des dicken Portemonnaies. Aber auch hierzulande sind Karten und zunehmend das Mobiltelefon zum Bezahlen gefragt. Werden wir untreu? Geht Deutschland den Weg Skandinaviens, wo Bargeld praktisch aus dem Geschäftsleben verschwunden ist? Und was bedeutet das für die Bundesbank, deren gesetzliche Aufgabe es noch ist, die Deutschen mit Bargeld zu versorgen?
Für eine eher zurückhaltende Institution hat die Bundesbank eine recht radikale Studie beim Dienstleister VDI/VDE IT und dem Meinungsforschungsinstitut Sinus bestellt. Das Ziel: Drei Szenarien, wie die Zukunft des Bargelds in Deutschland 2037 aussehen könnte. Es seien keine exakten Vorhersagen, sagte Burkhard Balz, im Bundesbankvorstand unter anderem für Bargeld zuständig, als er die Studie vorstellte. Es geht eher darum, zu sehen, was möglicherweise auf die Deutschen zukommt. Und welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, die Bundesbürger weiter ausreichend mit Bargeld zu versorgen. Immer vorausgesetzt, die Politik hält diese gesetzliche Aufgabe der Zentralbank weiter für wichtig.
Szenario 1: Deutschland ist eine hyperdigitale Bezahlwelt. Die Bundesbürger sind überzeugte Digitalfans. Kassen mit Bedienung gibt es in Geschäften nicht mehr, der Kunde scannt selbst, zahlt kontaktlos an Automaten, die vielleicht auch noch Bargeld annehmen. Die Verwaltung ist digital. Ältere haben gelernt, mit der neuen Technik umzugehen. Die Versorgung im ländlichen Raum hat sich verbessert, weil Läden ohne Personal auskommen. Geldautomaten sind selten. Bargeld wird allenfalls noch benutzt, um 100 Euro unters Kopfkissen zu legen. Der Anteil an Münzen und Scheinen an allen Zahlvorgängen beträgt selbst hier noch rund 15 Prozent.
Szenario 2: Bargeld erlebt eine Renaissance. Die Bundesbürger fürchten sich davor, künstliche Intelligenz könnte sie fremdbestimmen. Wegen der vielen Krisen sind die Menschen auf weitere eingestellt und sorgen mit Bargeld vor. Sie kaufen vor allem lokal ein. Viele Menschen pochen auf ein Recht auf analoges Leben, nutzen Bargeld bewusst. Banken sehen Bargeldservice als Investition in Kundenbindung. Ein- und Zwei-Cent-Münzen sind abgeschafft, überall lässt sich bar bezahlen. Kassen sind mit Personal besetzt. Handel und Verwaltung müssen Münzen und Scheine nehmen. Auch in diesem Szenario wird viel digital bezahlt, aber vor allem große Summen. Der Anteil des Bargelds an allen Transaktionen liegt unter 50 Prozent.
Szenario 3: In der hybriden Bezahlwelt ist alles möglich und vielen ist vieles egal. Die Gesellschaft zerfällt in unterschiedliche Lebenswelten. Die soziale Ungleichheit ist hoch. Der Staat hat wegen zahlreicher Krisen hohe Schulden gemacht, der Politik fehlt die Kraft, umzuverteilen. Die Wahl des Zahlungsmittels hängt von der Einstellung zu Digitalisierung ab. Der Handel bietet meist digitale Bezahlsysteme nach Vorlieben seiner Kunden. Bargeld wird vor allem auf Märkten, für Trinkgeld, Kleinbeträge und als Geschenk genutzt. Die Banken haben die Zahl der Filialen und Geldautomaten aus Kostengründen drastisch verringert, was Bargeldbeschaffung teuer und schwerer macht. Es gibt vorübergehende Cyberangriffe, aber keine politische Bewegung für Bargeld. Der Bargeldanteil an den Transaktionen liegt bei 31 Prozent – Tendenz fallend.
Die Szenarien mögen radikal aussehen, sie sind aber ausgehend von der aktuellen Situation möglich. Befragt wurden dazu unter anderem Experten, es gab eine repräsentative Umfrage in der Bevölkerung. Die Studienautoren bezogen die Entwicklung künstlicher Intelligenz ein Krisenszenarien mit Kriegen und Handelsproblemen. Auch der geplante digitale Euro wurde berücksichtigt.
„Wir gehen nicht davon aus, dass eines der Szenarien eintritt“, sagte Balz. Es sei aber wichtig, mit Extremen zu arbeiten. „Dadurch können wir besser einschätzen, wie wahrscheinlich etwas eintritt und wie wir uns darauf einstellen müssen.“ Ziel ist, dass die Menschen weiter die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, wie sie bezahlen. Und die Stabilisierungsfunktion des Bargelds soll erhalten bleiben. In Szenario 1 sei erheblicher Aufwand nötig und auch klare politische Vorgaben, sagte Balz. In Szenario 2 könne man frühzeitig gegensteuern.
Das Bundesbank-Vorstandsmitglied warb für Bargeld. Es sei unabhängig von technischer Infrastruktur, schütze die Privatsphäre. Jeder könne es zum Bezahlen und als Wertaufbewahrung benutzen. Man können Kindern mit ihm den Umgang mit Geld nahebringen. Und nicht zuletzt behielten viele mit Bargeld den Überblick über ihre Ausgaben.
Der Bargeldanteil sinkt allerdings, die Bundesbürger haben es gern einfach, kaufen mehr online oder nutzen an der Kasse Karte oder Mobiltelefon. Noch rund 60 Prozent der Käufe bezahlten die Menschen 2022 bar, wie das EHI, ein Handelsforschungsinstitut, ermittelt hat. Meist waren es kleinere Beträge. Denn der Umsatzanteil der Barzahlung betrug nur 37,5 Prozent.
Auch die Zahl der Geldautomaten sinkt. Etwa 52.600 gab es nach Angaben der Europäischen Zentralbank 2022 noch in Deutschland, gut 6000 weniger als drei Jahre zuvor. Inzwischen dürften es noch weniger sein. Der Wert ist im europäischen Vergleich allerdings immer noch hoch. Auch die Bundesbank überprüft gerade, ob 31 Filialen im Bundesgebiet wirklich nötig sind, um die Bevölkerung mit Bargeld zu versorgen. Am Auftrag ändert das nichts.