Sarrazins fragwürdige Thesen

Fakten-Check: Sind Thilo Sarrazins umstrittende Argumente gegen die Einwanderung richtig?

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Von Hannes Koch

30. Aug. 2010 –

Thilo Sarrazin hat mit seinen Thesen zur bedrohlichen Einwanderung von Moslems nach Deutschland eine heftige Debatte ausgelöst. Am Montag stellte das Vorstandsmitglied der Bundesbank sein umstrittenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ in Berlin vor. Unsere Zeitung hat die wichtigsten Thesen aus Sarrazins Buch überprüft.


These 1: Wegen der höheren Geburtenrate moslemischer Einwanderer könnte Deutschland in 100 Jahren überwiegend moslemisch sein.


Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung weist diese These zurück. Nur „gerade drei Prozent“ der Einwohner Deutschlands seien heute moslemischen Glaubens, so Kröhnert. Ihre Geburtenrate liege zwar höher als die der deutschstämmigen Bevölkerung, gleiche sich dieser aber allmählich an. „Von einer Übernahme“ des Landes durch die Moslems „kann also keine Rede sein“, sagt Kröhnert. Die Bevölkerungsentwicklung bis in 100 Jahren zu beschreiben, hält er für unwissenschaftlich – der Zeitraum sei zu lang, um belastbare Aussagen zu treffen.


These 2: „Die Gastarbeiter-Einwanderung der 1960er und 1970er Jahre war ein gigantischer Irrtum“. Die wirtschaftlichen Nachteile überwögen die Vorteile.


„Die Gastarbeiteranwerbung war zu ihrer Zeit ein wirtschaftlicher Erfolg, die Gastarbeiter haben zum Wachstum beigetragen“, sagt dagegen Einwanderungsforscher Kröhnert. Die Arbeiter aus Spanien, Italien, der Türkei und anderen Ländern haben daran mitgewirkt, dass unter anderem die deutsche Automobilindustrie Millionen Fahrzeuge herstellen und exportieren konnte. Das generierte Gewinne, Steuern und Sozialabgaben, die den Wohlstand des Landes erhöhten. Seit Mitte der 1970er Jahre allerdings hat sich die Bilanz ins Negative verkehrt: Viele Gastarbeiter wurden arbeitslos, lebten von staatlicher Unterstützung und holten ihre Familien nach. Die meisten Experten gehen davon aus, dass die ökonomischen Nachteile die Vorteile mittlerweile übersteigen.


These 3: Unter anderen wegen der generösen Sozialleistungen locke Deutschland vor allem arme Einwanderer an, die hohe Kosten verursachten.


Diese These Sarrazins trifft teilweise zu. Die Sozialleistungen in Deutschland sind großzügiger als beispielsweise im Einwanderungsland Kanada. Wobei die Experten anmerken, dass es gegenwärtig kaum noch eine Einwanderung nach Deutschland gibt. 2008 wurden nur 233 Personen als asylberechtigt anerkannt. 2007 und 2008 sind weniger Menschen aus moslemischen Ländern nach Deutschland eingewandert, als von hier dorthin auswanderten. Beispiel Türkei: 2008 sank die Zahl der Türken in Deutschland um 10.000.


These 4: Moslemischen Einwanderern hafte eine „besondere Mischung aus islamischer Religiosität und traditionellen Lebensformen an“, die ihre Integration erschwere.


Viele türkische und arabische Einwanderer stammen aus einfachen Verhältnissen und konservieren in Deutschland ihre traditionelle Lebensweise. Aber es gibt hunderttausende Gegenbeispiele: Unter den moslemischen Flüchtlingen etwa, die vor dem Schah oder Ayatholla Khomeini aus dem Iran flohen, waren viele Lehrer, Ärzte und Ingenieure, die wirtschaftlich und sozial hierzulande keine Probleme haben.


These 5: Vor allem moslemische Einwanderer trügen dazu bei, dass die durchschnittliche Intelligenz der in Deutschland lebenden Bevölkerung sinke.


Unter Wissenschaftlern ist höchst umstritten, ob die Intelligenz der deutschen Bevölkerung infolge zunehmender Armut, schlechterer Ernährung und Problemen im Bildungssystem abnimmt. Die Uneinigkeit beginnt schon mit den Messmethoden. Welche Intelligenztests sind geeignet, um diese Frage zu beantworten? Aber selbst, wenn die These von der abnehmenden deutschen Durchschnittsintelligenz zuträfe: Die dafür ursächlichen sozialen Probleme kann man nicht alleine den drei Millionen moslemischen Einwanderern in die Schuhe schieben. Sie tragen keine Verantwortung für die Unzulänglichkeiten des dreigliedrigen Bildungssystems.


These 6: Sarrazin hält Einwanderung für eine Bedrohung.

Dem widersprechen die meisten Bevölkerungsforscher. Die mehrheitliche wissenschaftliche Auffassung lautet: Wenn Deutschland seinen ökonomischen und sozialen Standard halten wolle, benötige es nicht weniger, sondern mehr Zuwanderer. Ohne diese würde die Zahl der deutschen Bevölkerung drastisch abnehmen. Um Vorteile zu bringen und tragbar zu sein, muss man die Zuwanderung allerdings steuern. Im Gegensatz zu früher braucht Deutschland vor allem gut qualifizierte Neubürger, die ihren Beitrag zum Wohlstand leisten können.

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