Schmerzliche Lücken in der Apotheke
Wieder werden Medikamente knapp. Besonders in Deutschland
14. Okt. 2023 –
Jedes Jahr zum Herbstanfang starten auch wieder Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Normalerweise lassen sich die saisonalen Krankheiten gut behandeln – 2022 allerdings fehlten in den Apotheken zahlreiche Medikamente. Und auch dieses Jahr könnte es Lücken geben. Großhändler wie Noweda und Phoenix warnen vor Engpässen. Vor allem Antibiotika fehlen bereits. Ein Grund ist das deutsche Gesundheitssystem.
Die Apotheker sind besorgt: „Wir fürchten, dass sich die Arzneimittelknappheit in den kommenden Herbst- und Wintermonaten wieder verstärkt. Die Aussagen des pharmazeutischen Großhandels deuten darauf hin“, sagt Benjamin Rohrer vom Bundesverband Abda. Die Lage erinnert an den vergangenen Winter. Damals waren frei verkäufliche Mittel wie Fiebersäfte vor allem für Kinder in Deutschland fast nicht zu bekommen. Engpässe gab es auch bei verschreibungspflichtigen Medikamenten, vor allem Antibiotika, Blutdrucksenkern und Diabetesmitteln.
Im vergangenen Herbst und Winter waren viel mehr Menschen krank als üblich, weil die Schutzmaßnahmen der Corona-Pandemie wegfielen, etwa die Maskenpflicht. Die Nachfrage vor allem bei Kinderarzneimitteln war höher als üblich. Das Angebot hielt nicht mit. Für diesen Winter sieht das Bundesgesundheitsministerium die Lage als deutlich besser an. „Bei Vermeidung von Hamsterkäufen ist die Versorgung mit Kinderarzneimitteln im Herbst-Winter 2023/2024 weitgehend gesichert“, heißt es in einem Fünf-Punkte-Plan.
Um Engpässe zu vermeiden, steuert die Bundesregierung grundsätzlich gegen. Seit Sommer gilt ein Gesetz mit dem Kürzel ALBVVG, das einige hausgemachte Gründe beseitigen soll. Es geht vor allem ums Geld. Im vergangenen Jahr kostete Gesundheit in Deutschland 498,1 Milliarden Euro, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat. Mehr als die Hälfte zahlten die gesetzlichen Krankenversicherungen. Und deren Ausgaben steigen. 2022 waren es 288,8 Milliarden Euro. Die Einnahmen liegen trotz erhöhter Zusatzbeiträge darunter. Der Staat schießt jedes Jahr 14,5 Milliarden Euro zu.
Damit die Kosten nicht übermäßig zulegen, gibt es seit Jahren verschiedene Bremsen im System. So können Krankenkassen mit den Herstellern Rabattverträge aushandeln. Wer bei der Krankenkasse X versichert ist und einen bestimmten Wirkstoff benötigt, bekommt in der Apotheke dann ein Medikament der Firma Y, mit der die Kasse einen Vertrag hat. Solche Rabattverträge gelten für den größten Teil der Generika, jener Medikamente, die Firmen nach dem Ablauf des Patentschutzes günstiger herstellen können. Für den Rest gibt es eine Obergrenze, die nach Angaben des Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie (BPI) die Preise von 2009 festschreibt. Solche Nachahmerpräparate machen rund 80 Prozent der Rezepte aus.
Es wird knapp kalkuliert. Und wenn sich in diesem Umfeld Energie und Rohstoffe verteuern, Hersteller aber die eigenen Preise nicht anheben können, verabschieden sie sich aus dem Markt. Verstärkt wird das durch einen anderen Effekt: „In Deutschland beispielsweise schreiben Kassen viele Arzneimittel exklusiv aus, wodurch oft nur ein Anbieter berücksichtigt wird und viele andere nicht am Markt und an der Versorgung teilnehmen können“, sagt Andreas Aumann vom BPI. Und so waren im vergangenen Winter etwa in niederländischen Apotheken Arzneimittel zu finden, die es in Deutschland nicht mehr gab.
Die Preisbremsen haben aus Sicht der Apotheker und der Industrie auch dem Produktionsstandort Deutschland geschadet. „Wegen der Rabattverträge haben sich die Hersteller beim Preis unterboten. Irgendwann war es für die Generika-Firmen nicht mehr interessant, hierzulande herzustellen“, sagt Abda-Sprecher Rohrer. „Jetzt kommen die meisten Bestandteile der Fertigarzneimittel, besonders die Wirkstoffe, aus Asien, wo billiger produziert werden kann.“
In Zeiten friedlichen Welthandels war die internationale Arbeitsteilung für alle von Vorteil. Seit 2022 gilt: „Generell sind die globalen Lieferketten in Zeiten geopolitischer Spannungen und Pandemien sehr instabil“, sagt BPI-Sprecher Aumann. „Dadurch kann es kurzfristig immer wieder zu Lieferschwierigkeiten kommen.“ Das betrifft alle europäischen Staaten gleich. Deshalb setzt sich die Bundesregierung für eine gemeinsame Lösung mit den EU-Partnern ein, wie ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums sagt. Es geht unter anderem darum, zusätzliche Lieferanten zu finden und Fabriken in Europa zu halten oder wieder anzusiedeln.
Solche Ansätze enthält auch das ALBVVG von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). So sind für Kinderarzneimittel zum Teil die Festbeträge aufgehoben, Rabattverträge gestrichen. Das Gesetz gibt Apothekern mehr Freiheit, gleichwertige Medikamente abzugeben, wenn das verschriebene nicht lieferbar ist. Und es sieht mehr Lagerung vor, wobei unklar ist wie etwas gelagert werden soll, wenn schon gar nicht beschafft werden kann.
„Wir haben durchaus den Eindruck, dass die Politik und auch der Minister diese dringenden Probleme erkannt hat, bisher waren die Lösungsansätze aber viel zu zaghaft und können so den zunehmenden Engpässen nicht hinreichend entgegenwirken“, erklärt BPI-Sprecher Aumann. Auch die Apotheker sind skeptisch: „Das Gesetz hat richtige Ansätze. Es wirkt aber erst in einigen Jahren richtig. Bis eine Fabrik gebaut ist und die Arzneimittel in den Markt kommen, dauert es mehrere Jahre.“ Bis dahin fordern die Apotheken maximale Freiheit beim Austausch von lieferbaren gegen nicht-lieferbare Medikamente. Und mehr Geld für den „enormen Mehraufwand beim Management der Lieferengpässe“.
Die Kassen, die zahlen müssen, sind wenig begeistert. Der Verband der Ersatzkassen, in dem unter anderem TK, Barmer und DAK organisiert sind, sieht vor allem steigende Kosten, aber keine bessere Versorgung. In einer Stellungnahme heißt es: Mit dem Gesetz würden „die Versicherten und Arbeitgeber werden mit Ausgabenrisiken in Milliardenhöhe belastet“.