Schwester Agnes reist nach Westen

25 Jahre Mauerfall – Was haben wir gelernt? Teil 2: Hausärzte können durch mobile Praxishelferinnen entlastet werden

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Von Hanna Gersmann

11. Sep. 2014 –

In Zeiten des Ärztemangels klingt es heilsam: Nicht alles können und müssen überlastete Hausärzte selber machen. Blutdruck messen und Blutproben nehmen, Wunden versorgen und Verbände wechseln – vieles können sie abgeben an mobile Helfer. Diese fahren zu den Patienten nach Hause. Den Ärzten bleibt derweil mehr Zeit für die Sprechstunde.

Doch so einfach ist das nicht. Es begann vor neun Jahren mit einem Modellprojekt in Mecklenburg-Vorpommern. Dahinter steckte vor allem ein Mann: Wolfgang Hoffmann vom Institut für „Community Medicine“ an der Universität Greifswald.

Der Medizinprofessor hatte die Idee zu „Arztentlastenden, Gemeinde-nahen, E-Health-gestützten, Systemischen Interventionen“. Er gewann dafür die Beamten im Schweriner Sozialministerium. Diese dachten sich in einer Nachtsitzung diesen komplizierten Namen aus. Der einfache Grund: Die Anfangsbuchstaben sollten Vertrautes ergeben - Agnes.

Schwester Agnes kurvte in einem Defa-Film, den das DDR-Fernsehen Mitte der siebziger Jahre zeigte, mit weißem Häubchen auf einem Schwalbe-Roller von Hausbesuch zu Hausbesuch. Die alleinstehende Frau Mitte Fünfzig – dargestellt von Agnes Kraus – spendete Pflaster und Trost. Und: Sie setzte dem Ärztemangel, den die Flucht der Akademiker aus dem Arbeiter- und Bauernstaat hinterlassen hatte, etwas entgegen.

Heute fast vierzig Jahre später, trifft der medizinische Fachkräftemangel viele ländliche Regionen in Deutschland. Es sei längst nicht mehr selbstverständlich, dass ein junger Arzt die Praxis eines alten übernimmt, meint der Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Brandenburg. Dabei werden nach Schätzungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 51.000 Haus- und Fachärzte bis zum Jahr 2021 in den Ruhestand gehen.

Vor allem Haus- und Kinderärzte, Augen- und Hals-Nasen-Ohrenärzte werden gesucht. Das Versorgungsstrukturgesetz, mit dem die einstige schwarz-gelbe Koalition Ärzte unter anderem mit finanziellen Anreizen aufs Land locken wollte, brachte kaum Linderung. Deshalb hat sich Agnes längst auch auf den Weg nach Westen gemacht.

Dabei kam das Projekt bei den Medizinern dort anfangs gar nicht an. Die Funktionäre wetterten, „sie sahen ihren Stand bedroht“, erinnert sich Hoffmann. Derweil ging sein Modellprojekt weiter – mit Erfolg. „95 Prozent der Patienten waren von Anfang an begeistert“, so Hoffmann, „inzwischen befürworten auch 80 Prozent der Ärzte das Konzept“.

Die Vorbehalte schwanden. Agnes bekam Schwestern: Verah, die Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis in Thüringen, Eva, die Entlastende Versorgungsassistentin in Nordrhein-Westfalen, Moni, das Modellprojekt in Niedersachsen.

Die Helfer sind zumeist fortgebildete Arzthelferinnen und Krankenschwestern, ihre Schulungen sind verschieden. Doch immer werden die Fachkräfte auf Weisung und im Auftrag niedergelassener Ärzte tätig. Sind sie unterwegs zu Diabetikerin, Asthmatikern oder Herzkranken, können sie sich im Zweifel schnell mit dem Arzt per Handy absprechen.

Wie geht es weiter? Anja Kistler vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe kann sich vorstellen, dass es demnächst in Supermärkten Mini-Praxen gibt. In den USA ist das bereits ein Trend, in den sogenannten Walk-In-Kliniken behandeln medizinische Helfer kleinere Leiden. Die Patienten können sich dort auch beraten lassen, etwa wie sie sich gesund ernähren. Das käme heute beim Arzt oft zu kurz, meint Kistler, dabei sei Vorbeugung immer noch am besten.

Sie warnt allerdings vor „Doppelstrukturen“ bei der neuen Art der medizinischen Versorgung: „Häufig gibt es schon einen ambulanten Pflegedienst – mit gut ausgebildetem Personal. Da ist es nicht nötig, Arzthelferinnen noch einmal nachzuqualifizieren.“

Hoffmann sieht das etwas anders. Er meint, es spreche gar nichts gegen Pflegerinnen und Pfleger, doch müssten auch diese sich für die Übernahme bislang ärztlicher Kompetenzen bei Hausbesuchen zusätzlich qualifizieren. Zumal er schon an einem neuen Projekt arbeitet: Einige der mobilen Helferinnen sollen sich spezialisieren, etwa auf Demenz- oder Krebskranke.

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