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Die Occupy-Bewegung protestiert auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos
26. Jan. 2012 –
Flurina Marugg kann jetzt Iglus bauen. Weil es in Davos seit Wochen ständig schneit, schieben die Schneeräumer meterhohe Haufen zusammen. Aus dieser harten Masse schneiden die 22Jährige und ihre Mitstreiter mit Schneesägen stabilgefrorene Quader heraus. Wenn man die spiralförmig aufschichtet, entsteht allmählich das Iglu.
Flurinas Unterkunft auf dem Parkplatz der Parsenn-Seilbahn in Davos-Dorf kann man besichtigen. Dafür muss man hineinkriechen. Drinnen gibt es eine erhöhte Liegefläche aus Schnee, die für zwei Schlafsäcke reicht.
Seit Oktober 2011 sei sie „professionelle Aktivistin“, erzählt Flurina. Erst hat sie bei Occupy Zürich mitgemacht, jetzt bei Occupy Davos gegen das Weltwirtschaftsforum der Manager, das Mittwoch begann. Nach ihrem Bachelor in Internationalen Beziehungen, den sie in Genf und Sydney erworben hat, hat die Ausbildung jetzt Pause. Später will sie Filme drehen.
30 bis 50 Leute übernachten in den mittlerweile acht Iglus und zwei Zelten. Der Schweizer Tagesanzeiger hat das Protest-Camp freundlich aber abschätzig „Pfadilager“ genannt – Pfadfinderlager. Was daran stimmt: Den Occupy-Leuten in Davos scheint nichts ferner zu liegen, als am Zaun des Kongresszentrums zu rütteln. Ihr Camp ist vom Gemeinderat genehmigt. Sie sind zuvorkommend, freundlich und gehen gemeinsam zum Migros-Supermarkt, um für´s Abendessen einzukaufen.
Falsch ist hingegen die Unterstellung, die Pfadfinder übten keinen politischen Einfluss auf das aus, was hinter den Polizeiabsperrungen beim offiziellen WEF diskutiert wird. Zwar stehen ihre Behausungen weitab vom Schuss, doch ihre Botschaft kommt an. Beeindruckt zählt Flurina auf, welche englischsprachigen Medien schon da waren: BBC, CNN, Bloomberg, Associated Press und so weiter. Reuters hat auf seiner speziellen Davos-Internetseite mehrere Berichte und Videos über die Iglubauer gebracht.
So gelingt es den Protestierern, die offizielle Veranstaltung unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Funktioniert der Kapitalismus als System noch, kann man ihn reparieren? Diese Fragen, die auch Occupy formuliert, gehören zu den wichtigsten Themen von Davos. Flurina, die Frau mit der Russenmütze, spricht den beim WEF versammelten Vorstandsvorsitzenden und Spitzenpolitiker die Legitimation ab, den „Zustand der Welt zu verbessern“, wie es der Anspruch des WEF ist. „Diese Veranstaltung ist undemokratisch, niemand hat diese Leute gewählt“ - eine Behauptung, die zumindest in Bezug auf die anwesenden Vertreter demokratischer Regierungen nicht stimmt.
Flurina und ihre Mitstreiter hingegen begreifen sich als die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. „Wir sind die 99 Prozent“ steht auf dem Schild, das neben ihrem Zelt im Schnee steckt – was eine ebenso willkürliche Setzung ist wie der Machtanspruch der Wirtschaftselite.
Und was wollen die 50 Leute, die die 99 Prozent hier in Davos zu vertreten meinen? „Die Konzerne sollen das Geld zur Verfügung stellen, um den Hunger auf der Welt zu stoppen“, sagt Flurina. Sie sollen die Menschenrechte achten und mit weniger Profit zufrieden sein.
Darüber, wie das möglich wäre, könnte man tatsächlich mal diskutieren. Schließlich gibt es seit vier Jahren eine Finanzkrise, die auch durch die maßlosen Profitansprüche der Banken und Kapitalbesitzer ausgelöst wurde. Aber WEF-Chef Klaus Schwab will die Occupy-Leute nicht zum offiziellen Forum einladen – obwohl sie gerne mitreden würden. „Vielleicht nächstes Jahr“, heißt es beim WEF.