Tücken des Atomausstiegs

Die Regierung will Akw nicht laufen lassen

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Von Björn Hartmann

27. Jun. 2022 –

Russland dreht Deutschland langsam den Gashahn zu. Und sofort entspinnt sich wieder eine Debatte über die Atomkraft in Deutschland. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) etwa fordert, die drei letzten noch laufenden deutschen Atomkraftwerke zumindest einige Monate am Netz zu lassen und nicht, wie 2011 beschlossen, Ende 2022 endgültig abzuschalten. Man brauche die Energie. Auch in der FDP mehren sich Stimmen. Die Bundesregierung hält am Ausstieg fest. Wer hat recht?

Bereits im März, kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hatte die Bundesregierung überprüft, wie sie reagiert, wenn Russland kein Gas mehr liefert. Immerhin bezog Deutschland 2021 gut 55 seines Gasbedarfs aus Russland. Eine Empfehlung damals: Am Atomausstieg festzuhalten.

Inzwischen hat Deutschland Gas in anderen Ländern bestellt, mit dem Bau von Flüssiggasterminals begonnen, um unabhängiger zu werden. Jetzt schränkte der staatliche russische Konzern Gazprom die Gas-Lieferungen ein. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verkündete, Kohlekraftwerke wieder hochfahren zu wollen. Am Atomausstieg wird auch weiterhin nicht gerüttelt. Im Bundesumweltministerium heißt es, der Rahmen habe sich nicht geändert.

Der Fall hat mehrere Aspekte: Technisch ließen sich die drei Kraftwerke Emsland (RWE), Isar 2 (Eon) und Neckarwestheim 2 (EnBW) weiterbetreiben. Was fehlt, sind zum Beispiel Brennstäbe. ENBW hat den Reaktorkern in Neckarwestheim „so bestückt und berechnet, dass eine Stromproduktion bis 31. Dezember 2022 möglich ist“. Bei RWE heißt es: „Unser Kraftwerk in Emsland ist auf den Auslaufbetrieb zum Ende des Jahres ausgerichtet, zu dem Zeitpunkt wird der Brennstoff aufgebraucht sein.“ Neue Brennelemente zu besorgen, dauert – die Zeitangaben schwanken, Experten rechnen mit zwölf bis 18 Monaten. Das dafür nötige Uran müsste zum Beispiel in Russland oder der Ukraine beschafft werden.

Möglicherweise fehlt auch Personal. Die Kraftwerksbetreiber haben die Belegschaft so geplant, dass der Betrieb bis Ende 2022 sichergestellt ist. Danach werden nicht mehr alle Mitarbeiter mit besonderen Sicherheitszertifikaten benötigt. Neues Personal müsste umfangreich geschult werden. Sicherheitsfreigaben sind immer auf ein Kraftwerk bezogen. Beschäftigte aus dem inzwischen abgeschalteten AKW Grohnde können also nicht ohne weiteres in Isar 2 arbeiten.

Atomkraftwerke arbeiten mit Hochrisikotechnologie und werden deshalb intensiv geprüft, um jedes bekannte Risiko auszuschließen. Es gibt laufende Kontrollen und große, sogenannte Periodische Sicherheitsüberprüfungen (PSI). Letztere sind alle zehn Jahre nötig. In Deutschland wird bei laufendem Betrieb geprüft, sie dauern deshalb mehrere Jahre. In der Zeit werden die Anlagen umfangreich auf den neusten Stand der Sicherheitstechnik gebracht.

Für die drei letzten deutschen AKW waren PSÜ 2009 angesetzt. Die für 2019 geplanten hatte der Gesetzgeber 2011 als unverhältnismäßig angesehen. Schließlich sollte 2022 Schluss sein. Die Anlagen jetzt länger zu betreiben, ist für die deutschen Atomaufsicht, angesiedelt beim Bundesumweltministerium, ohne umfangreiche Prüfungen deshalb nicht zu verantworten. Die nukleare Sicherheit und die staatliche Schadensvorsorge seien unverhandelbar. Über eine Laufzeitverlängerung – auch für nur ein paar Monate, um über den Winter zu kommen – müsste ohnehin der Bundestag entscheiden.

Es gibt aber noch ein ganz grundsätzliches Problem: Die Betreiber der drei letzten deutschen Atomkraftwerke wollen nicht. Offizielle Anfragen beantworten EnBW, Eon und RWE äußerst zurückhaltend. Bei EnBW heißt es, man habe eine langfristige Strategie für den Rückbau ihrer Kernkraftwerke ausgearbeitet, die seither konsequent umgesetzt werde. „Der gesetzliche Rahmen schließt eine Stromproduktion in den derzeit noch in Betrieb befindlichen deutschen Kernkraftwerken über den 31. Dezember 2022 hinaus eindeutig aus.“ Ein Eon-Sprecher sagte: „Wir bereiten uns seit Jahren sowohl technisch als auch organisatorisch auf die Stilllegung und den Rückbau unserer Kernkraftwerke vor.“ RWE erklärt: „RWE schätzt die Hürden für einen sinnvollen verlängerten Betrieb als hoch ein.“

Das Bundesumweltministerium berichtet auf seiner Internetseite von den Gesprächen mit den Betreibern. „Sie hätten im Falle einer Laufzeitverlängerung verlangt, dass der Staat ihnen sämtliche rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Risiken abnimmt und die alleinige (Betreiber-)Verantwortung übernimmt.“ Wie das aussehen könnte, ob etwa die Bundesnetzagentur oder eine andere Behörde Anlagen und Personal übernehmen könnte, ist unklar. Zudem hätten die Betreiber auch Abstriche bei der AKW-Sicherheit verlangt. Geklärt werden müsste auch, ob die Betreiber Teile der Stilllegungsprämien zurückzahlen müssten und wer fürs Endlager zahlt.

Kann Atomenergie überhaupt helfen? Ein bisschen. Im ersten Halbjahr 2022 hatte Atomenergie nach Zahlen des Fraunhofer ISE einen Anteil von rund 6,3 Prozent an der Stromerzeugung. Die Anlagen liefen weitgehend bei Volllast. Bei Gas waren es 10,6 Prozent. Fällt Gas weg, ist immerhin noch die Atomenergie da. Das große Aber: Die Industrie ist der größte Gasverbraucher. Im vergangenen Jahr nahm sie nach Zahlen des Branchenverbands Zukunft Gas 36,5 Prozent des Gases ab. Fast zwei Drittel der Menge wurde für Wärme benötigt – überwiegend Prozesswärme. Ohne die läuft wenig. Und sie lässt sich mit Atomstrom nicht erzeugen. Ähnlich sieht es bei Privatleuten aus: Die Hälfte der 42,9 Millionen Haushalte heizt mit Gas. Das lässt sich nicht kurzfristig auf Strom umstellen.

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