• Simulation eines Slums |Foto: Thomas Williams
    Simulation eines Slums |Foto: Thomas Williams

Tüten kleben um das Leben

Bei der Simulation „Kampf um´s Überleben“ bekommt man einen Eindruck, wie sich Armut anfühlen könnte. Der Gipfel der Mächtigen in Davos hat sich verändert

Teilen!

Von Hannes Koch

23. Jan. 2013 –

Die fünfköpfige Familie hockt auf ihrer zwei mal zwei Meter großen Plane. Mit selbstgemachtem Leim aus Mehl und Wasser kleben sie aus alten Zeitungen kleine Papiertüten. Hunderte davon müssen sie täglich herstellen und verkaufen, um das Geld für Essen, Wasser und die Miete ihrer Hütte zu verdienen.


Diese Situation könnte sich in irgendeinem Slum auf der Welt abspielen. Der Vater bringt die Tüten-Stapel zum Slumlord, dem Machthaber in diesem Teil der Armutssiedlung. Der schreit den Tütenverkäufer an, zerreißt die Hälfte der Lieferung, lässt sich unter Beschimpfungen und Drohungen schließlich herbei, ein paar Scheine herauszurücken. Gedrückt eilt der Mann zurück in seine Hütte – weiter geht es, Tüten kleben um das Leben.


Diese und weitere vier Familien bestehen aus Schülern einer Berufsfachschule im Schweizer Skiort Davos. Sie nehmen teil an der Simulation „Kampf um´s Überleben“, einer Art Theater mit Zuschauerbeteiligung, die die Wohltätigkeitsorganisation Crossroads aus Hongkong beim diesjährigen World Economic Forum (WEF) veranstaltet. Für eine Stunde kommen die Teilnehmer durch einen Hauch persönlichen Erlebens in Berührung damit, was es bedeutet, auf dem niedrigsten Niveau der Weltgesellschaft zu leben – also beispielsweise mit einem Dollar pro Tag auszukommen. Jedem siebten Menschen auf der Welt geht es so.


Vor dem Start ermahnt Crossroads-Manager David Begbie die Teilnehmer: „Bleibt am Leben, lasst Eure Familie nicht sterben“. Zehntausende Teilnehmer hat Crossroads innerhalb von sieben Jahren durch seine 30 Simulationen geschleust – viele davon Manager von Unternehmen. Das ist eine der wichtigsten Zielgruppe – Crossroads will Kontakte herstellen zwischen den Mächtigen und den Vertretern der Ohnmächtigen, um sinnvolle Entwicklungsprojekte in die Wege zu leiten.


Eine Veranstaltung wie diese würde man beim Managergipfel von Davos nicht unbedingt erwarten. Doch das Forum hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Dieser Prozess begann, als zu Beginn der 2000er Jahre die damals neue globalisierungskritische Bewegung ihren Weltsozialgipfel in Brasilien abhielt. Auch in Davos wurde heftig demonstriert. WEF-Chef Klaus Schwab hielt es deshalb für ratsam, einige der neuen Akteure einzubeziehen.


Diese allerdings werden sorgfältig ausgewählt. Organisationen, die hart und klar die Umweltzerstörungen durch Konzerne oder die schlechten Arbeitsbedingungen in asiatischen Textilfabriken kritisieren, sind beim WEF nicht beteiligt. Sie werden nicht eingeladen oder verzichten selbst. Stattdessen gibt es beim Forum beispielsweise die Gruppe der Young Global Leader. Das sind Sozialunternehmer, die Firmen gegründet haben, deren Geschäftszweck die Linderung eine sozialen Missstandes ist, und deren Profite nur diesem Ziel zugute kommen.


Hört das Forum auf diese Leute, gibt es einen fruchtbaren Austausch, ändern die großen Unternehmern vielleicht auch mal ihre Geschäftspolitik? Die Werbeslogans mancher Firmen deuten daraufhin, dass es so sein könnte. Die Unternehmensberatung KPMG beispielsweise ist am Hotel Steigenberger-Belvedere, wo viele Firmen ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben, mit dem großformatigen Spruch vertreten: „Die Zeit der Zivilgesellschaft ist gekommen“. Und natürlich gelobt jeder Vorstandsvorsitzende bei den zahlreichen Diskussionsveranstaltungen, dass er den ökologischen Fußabdruck seines Unternehmens verringern und zur Reduzierung der Armut beitragen wolle.


Bei Crossroads erreiche man das Ziel manchmal, sagt David Begbie. So stelle der Software-Konzern Microsoft dank der Vermittlung der Wohltätigkeitsorganisation Schulen in Entwicklungsländern kostenlose Computer zur Verfügung. Bei den Schülern der Berufsfachschule jedenfalls hat das Experiment Eindruck hinterlassen. Nach einer Stunde Bodenhocken und Tütenkleben, umgeben von Dreck, Schrott und Krach, berichten manche in der abschließenden Runde: Ich kann mir jetzt ein bisschen besser vorstellen, wie sich Schutz- und Ausweglosigkeit anfühlen.

« Zurück | Nachrichten »