Unsere Lebenseinteilung ist überholt

Serie: Familie und Zukunft

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Von Wolfgang Mulke

03. Jan. 2012 –

In den ersten Jahrzehnten des Lebens ballen sich die Anforderungen an Frauen und Männer. Da ist einerseits die Ausbildung, die immer mehr Engagement erfordert, zum Beispiel, weil für begehrte Berufe höhere Einstiegsqualifikationen verlangt werden. Dann steht der Wechsel ins Arbeitsleben an, der häufig über Praktika oder andere schlecht oder gar nicht entlohnte Tätigkeiten führt. Anschließend geht die Kraft für das Fortkommen im Job drauf. Zugleich soll diese Generation aber auch für den dringend benötigten Nachwuchs sorgen und Familien gründen.


Eine Folge davon ist die immer spätere Geburt von Kindern. 1970 waren Mütter bei der Geburt des ersten Kindes noch Mitte zwanzig. Heute kommt es statistisch betrachtet zur Welt, wenn die Mutter 29 Jahre alt ist. In der selben Zeit schrumpfte zudem die Phase, in der Kinder geboren werden, stark zusammen. Ließen sich Frauen vor 40 Jahren für drei Kinder noch sieben Jahre Zeit, sind es heute noch etwa vier Jahre. „Eine Frau mit drei Kindern ist heute 48 Jahre alt, wenn das letztgeborene Kind in die Pubertät kommt“, rechnet der Familienforscher Hans Bertram von der Berliner Humboldt-Universität vor.


Der Soziologieprofessor kritisiert, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit der Entwicklung nicht Schritt gehalten haben. Die zeitliche Enge von beruflicher und privater Entwicklung sei ein historisch völlig neues Phänomen. Das klassische Familienmodell mit einem Ernährer funktioniere nicht mehr, weil heute beide Partner für die ökonomische Sicherheit der Familie sorgen müssten.


Hinzu kommt noch eine weitere nachteilige Tendenz. Früher verfügten junge Haushalte über ein relativ gutes Einkommen. Heute sorgen lange Qualifikationsphasen in den neuen Berufen dafür, dass erst ab einem Alter von 40 Jahren das Einkommen stark steigt. Dagegen ist die finanzielle Lage bei der Familiengründung häufig prekär. Zudem startet der Berufseinstieg noch oft mit zeitlich befristeten Verträgen oder Projektbezogenen Einstellungen. „All diese Veränderungen haben sich in den vergangenen 30 Jahren fast unbemerkt vollzogen“, sagt Bertram. In neuen Berufen hätten auch deshalb überproportional viele Frauen keine oder nur wenige Kinder.


Der Forscher fordert daher eine Abkehr von traditionellen Vorstellungen über die Einteilung des Lebens. „Wer nicht in jungen Jahren das beste und höchste Bildungspatent für den jeweiligen Beruf erwirbt, hat später keine Chance, das nachzuholen“, kritisiert er. So müsse jungen Frauen die Möglichkeit eröffnet werden, nach der Erziehung von Kindern wieder in einen Beruf einsteigen, der keinen finanziellen Abstieg mit sich bringt, wie es heute oft der Fall ist, weil Qualifikationen zwischenzeitlich entwertet wurden.


Zeitweilige Unterbrechungen und die neue Aufnahme von Bildung und Berufsleben könnten den bisher geforderten steten Lebensweg, auf dem eine Station nach der anderen angesteuert wird, ersetzen. Das erfordert aber auch ein Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die sich dieser Aufgabe annehmen und entsprechende Strukturen und die Akzeptanz für individuelle Lebenswege schaffen können. „Familienpolitik müsste eigentlich ein Teil der Arbeitsmarkt – und Sozialpolitik werden“, glaubt Bertram.




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