• Hans-Peter Kern |Foto: BG ETEM
    Hans-Peter Kern |Foto: BG ETEM

„Von häufigen Neuerungen überfordert“

Stress durch „Verdichtung der Arbeit“ - Bosch-Betriebsrat Hans-Peter Kern erklärt, was das bedeutet

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Von Hannes Koch

22. Apr. 2013 –

Hannes Koch: Wir alle kennen das Gefühl, morgens in den Strudel der Arbeit hineinzuspringen und nachmittags oder abends wieder ausgespuckt zu werden. Die Hektik scheint ständig zuzunehmen. Aber stimmt dieser Eindruck überhaupt?


Hans-Peter Kern: Aber ja, die Arbeitswelt verändert sich permanent, sie wird kurzlebiger. Vor zehn Jahren war es in einem Unternehmen wie Bosch üblich, Entwicklungsprojekte für neue Produkte aufzustellen, die dann fünf Jahre liefen. Danach hatten die Entwickler eine Pause, um die Köpfe freizubekommen. Dann startete das nächste Vorhaben. Heute dagegen kommen die neuen Projekte im Halbjahrestakt, und die Kollegen arbeiten an mehreren Aufgaben gleichzeitig.


Koch: Als Ursache von Stress wird oft die „Verdichtung“ der Arbeit genannt. Was ist das genau?


Kern: Beschäftigte erledigen mehr Dinge mit teils größerer Verantwortung in weniger Zeit als früher. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den 1990er Jahren bediente ein Mitarbeiter eine computergesteuerte Drehmaschine und fertigte damit bestimmte Bauteile. Heute erledigt er viele zusätzliche Tätigkeiten. Er schreibt das Programm für die Maschine selbst und optimiert es. Außerdem wirkt er daran mit, seine Tätigkeit in den Ablauf der gesamten Produktion einzupassen. Ständig gibt es Teambesprechungen zur Abstimmung der Prozesse. Dies ist im Grunde zu begrüßen, den eine Anreicherung der Arbeit ist durchaus wünschenswert. Jedoch wird das alles zusätzlich verlangt - ohne dass die Stückzahl gesenkt wird. Die Arbeitsschicht ist nicht länger geworden, sie hat auch heute nur sieben bis acht Stunden.


Koch: Welche Art von Stress ist für Beschäftigte bei Bosch besonders relevant?


Kern: Viele Kollegen fühlen sich von den häufigen Neuerungen überfordert. Weil das Unternehmen schnelle Innovation predigt und dauernd neue Produkte auf den Markt bringen will, müssen die Mitarbeiter ständig lernen und sich umorientieren.


Koch: Ist Lernen keine gute Sache?


Kern: Auf der einen Seite sicherlich. Lebenslanges Lernen hält jung und wach. Aber es gibt auch die andere Seite – den Druck, lernen und dadurch höhere Leistung bringen zu müssen, koste es, was es wolle. Dieses Problem betrifft alle, am meisten aber die älteren Kollegen.


Koch: Andererseits wird manche Arbeit jedoch auch leichter. Beschäftigte in den Produktionsstraßen deutscher Konzerne sind in der Regel nicht mehr giftigen Dämpfen oder zu großem Krach ausgesetzt. Sie machen regelmäßig Pause und bekommen satte Gehälter. Ist angeblicher Stress nicht auch ein Modephänomen, damit Gewerkschaften noch etwas zu kritisieren haben?


Kern: Teilweise gehen die harten körperlichen Belastungen zwar zurück. Aber es entstehen auch neue Probleme. Dazu ein weiteres Beispiel. Früher sagte der Meister: Wir haben hier einen Auftrag, der ist kaum zu schaffen, aber lasst es uns probieren. Heute sagt er seinen Leuten: Wenn wir diesen Auftrag nicht schaffen, verlieren wir ihn. Also überlegt Euch, was Ihr selbst tun könnt. Der Vorgesetzte überträgt den Mitarbeitern somit Verantwortung, die sie mangels Gestaltungsfreiheit aber oft nicht ausfüllen können. Denn die Maschinen, die sie bedienen, laufen nun mal nicht schneller. Die Firmen neigen dazu, ihre Beschäftigten systematisch zu überfordern.


Koch: Haben Sie es bei Bosch geschafft, dass die Arbeitnehmer mehr Zeit bekommen, bestimmte Tätigkeiten zu erledigen?


Kern: Eine Entschleunigung der Arbeit durchzusetzen, ist sehr schwer. Erfolge haben wir eher, indem wir die weitere Beschleunigung verzögern. Bosch will die sogenannte Steinkühler-Pause – fünf Minuten pro Stunde für Beschäftigte in Akkordarbeit – abschaffen. Das ist dem Unternehmen bisher nicht gelungen. Die Kollegen und der Betriebsrat stehen geschlossen dagegen.


Koch: Welche Maßnahmen können Betriebsräte überhaupt durchsetzen, um Arbeitsstress zu reduzieren?


Kern: Hilfreich ist es unter anderem, wenn Unternehmen den Austausch von E-Mails im firmeneigenen Netz abends ab einer bestimmten Uhrzeit unterbrechen. Damit helfen sie ihren Mitarbeitern, das Smartphone beiseite zu legen und sich zu erholen. Außerdem kann man daraufhinwirken, das eine oder andere Entwicklungsprojekt zeitlich besser zu planen oder aber auch durch Einstellungen zusätzlicher Mitarbeiter diese Projekte zeitnah zum Abschluss zu bringen. Auch ergonomische Verbesserungen können helfen, beispielsweise kombinierte Sitz- und Steharbeitsplätze im Büro.


Koch: Die IG Metall fordert eine Anti-Stress-Verordnung der Bundesregierung. Was würde sich dadurch ändern?


Kern: Von psychischer Belastung ist im aktuellen Arbeitsschutzgesetz noch keine Rede. Die Novellierung und eine Anti-Stress-Verordnung würden die Basis dafür legen, dass die Betriebsräte überhaupt systematisch mit den Unternehmensleitungen über das Thema Stress verhandeln können. Dann erst hätten wir die Möglichkeiten, breite Verbesserungen durchzusetzen.


Hans-Peter Kern (Jg. 1965) ist Betriebsrat beim Automobilzulieferer und Elektronik-Konzern Bosch im baden-württembergischen Reutlingen. Gleichzeitig übt er eine ehrenamtliche Tätigkeit im Vorstand der Berufsgenossenschaft ETEM aus, die unter anderem für Arbeits- und Unfallschutz im Energie- und Elektrobereich zuständig ist.


Kongress gegen Stress

Mehr als zehn Prozent aller Fehltage, an denen Beschäftigte wegen Krankheit nicht zur Arbeit erscheinen, sind mittlerweile auf seelische Leiden zurückzuführen. Dies sagt die Statistik des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen. Zu großer Stress am Arbeitsplatz und das Burnout-Syndrom gehören zu den wichtigsten Phänomen. Unter anderem die Gewerkschaft IG Metall fordert die Bundesregierung deshalb auf, eine Anti-Stress-Verordnung zu formulieren. Um dieses Ziel zu unterstreichen, veranstaltet die Gewerkschaft ab kommenden Dienstag (23.4.) ihren „Anti-Stress-Kongress“ in Berlin. Während die SPD die Forderung der Gewerkschaft unterstützt, sieht die Regierungskoalition bislang keinen Anlass für eine neue Verordnung. Das Bundesarbeitsministerium prüft aber, ob psychische Belastungen ins Arbeitsschutzgesetz aufgenommen werden sollen.

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