Wachstum alleine reicht nicht

Der Bundestag entwickelt einen neuen Maßstab, um Fortschritt und Lebensqualität zu messen

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Von Hannes Koch

12. Apr. 2013 –

Vielleicht wird man diesen Bericht später als Zeichen eines Epochenwechsels betrachten. Das Bruttoinlandsprodukt – der Geldwert der produzierten Waren und Dienstleistungen – gilt nun nicht mehr als beherrschendes Maß für das Wohlergehen der Menschen in Deutschland. Weitere offizielle Indikatoren treten hinzu, um die Lebensqualität zu beschreiben, beispielsweise eine Größe für soziale Ungleichheit und drei Anzeiger für die ökologischen Auswirkungen unserer Wirtschaftsweise.


Die Relativierung des Wirtschaftswachstums ist ein erstaunliches, weil parteiübergreifendes Ergebnis der Enquetekommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität im Bundestag, die nach gut zweijähriger Arbeit am Montag (15.4.) zum letzten Mal tagt. „Politik und Gesellschaft sind sich der sozialen und ökologischen Risiken zunehmend bewusst, die mit der Ideologie materiellen Zuwachses einhergehen,“ so Grünen-Politiker Hermann Ott. Seine Kollegin Stefanie Vogelsang von der CDU sagt: „Seit der Zeit des Wirtschaftswunders wird das BIP fälschlicherweise als Maß für Wohlstand betrachtet.“


Als Zeichen der Umorientierung schlägt die Mehrheit der Kommission aus Union, SPD und FDP vor, künftig zehn Indikatoren regelmäßig zu veröffentlichen. Vogelsang setzt sich dafür ein, dass der offizielle Wohlstandsmaßstab eine eigene Internetseite bekommt und beispielsweise vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages gepflegt wird.


Unter der Überschrift „materieller Wohlstand“ sollen das BIP, die öffentliche Verschuldung und die Einkommensverteilung erfasst werden. Letztere weist dann aus, wieviel mehr Geld ein Einwohner im wohlhabensten Fünftel der Bevölkerung im Vergleich zu einer Person zur Verfügung hat, die zum ärmsten Fünftel gehört.


Über „Soziales und Teilhabe“ gibt künftig unter anderem die Beschäftigungsquote Auskunft. Diese stellt den Anteil der Arbeitenden an der Bevölkerung dar. Sie hält die Kommissionsmehrheit für aussagekräftiger als die Arbeitslosenquote, die sich politisch zu leicht beeinflussen lasse. Hinzukommen die Quote der Schüler mit einem höheren Bildungsabschluss, die Lebenserwartung und ein Indikator für demokratische Beteiligung. Unter dem Stichwort „Ökologie“ erscheinen der Ausstoß klimaschädlicher Gase, die Belastung mit Stickstoff unter anderem aus der Landwirtschaft und die Artenvielfalt in Flora und Fauna.


Linke und Grüne haben eigene Indikatorensets eingebracht. Die Umweltpartei kritisiert, dass eine Menge von zehn Indikatoren zu diffus sei. Ihr „Wohlstandskompass“ beinhaltet nur vier Größen: Natur- und Ressourcenverbrauch, Einkommensverteilung, BIP pro Kopf in Kaufkraftstandard und die Lebenszufriedenheit. Zum letzten Punkt sollen die Bundesbürger regelmäßig befragt werden.


Dass die Arbeit der Kommission neben vielen gemeinsamen Einschätzungen auch jede Menge Streit verursachte, zeigen die bislang 135 Drucksachen mit insgesamt mehreren tausend Seiten, die die Abgeordneten und Wissenschaftler produzierten. Zahlreiche wütende, freundliche, nachdenkliche oder belehrende Sondervoten zu Einzelfragen sind auf der Hompage des Bundestages nachzulesen.


Tendenziell mager ist die Ausbeute, was umsetzbare und konsensfähige Handlungsempfehlungen betrifft. Einige Linke, Grüne und SPDler haben formuliert, was man tun könnte. Sie plädieren dafür, auf die Bremse zu treten und beispielsweise Obergrenzen für die Umweltbelastung festzulegen. Sie setzen sich dafür ein, dass der Staat Bürger und Unternehmen animieren solle, eine nachhaltige Wirtschaftsweise auszuprobieren. Motto: Mehr Carsharing statt mehr neue Autos. Zu solchen Schlussfolgerungen wollte sich die Kommissionsmehrheit jedoch nicht hinreißen lassen und es eher beim Nachdenken belassen: „Deutschland kann nicht im Alleingang sicherstellen, dass die Welt einen balancierten und nachhaltigen Entwicklungspfad einschlägt.“

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