Wenn Anwesenheit schadet
Mitarbeiter, die krank zur Arbeit gehen, kosten Unternehmen Milliarden – und tun sich selbst nichts Gutes
25. Mai. 2012 –
Das schrille Weckerklingeln ließ das Stechen im Kopf nur noch unerträglicher werden. Jede Bewegung schmerzte. Mit dieser Erkältung fiel es Susanne Hoffmann schwer, klare Gedanken zu fassen. Dennoch schleppte sich die 29-Jährige Ernährungsberaterin Tag für Tag aufs Neue ins Büro. Fast zwei Wochen hielt sie tapfer durch. Schlussendlich musste die junge Frau einen Arzt aufsuchen: Sie hatte eine Lungenentzündung.
Susanne Hoffmann, die ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, steht nicht alleine da. Mehr als zwei Drittel der Mitarbeiter gehen jedes Jahr krank zur Arbeit. Jeder Dritte sogar gegen ärztlichen Rat. Das geht aus den jüngsten Erhebungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervor. Fachleute sprechen von „Präsentismus“, wenn sich gesundheitlich angeschlagene Angestellte ins Büro quälen. Das Wort, das wie eine Krankheit klingt, kann tatsächlich krank machen.
Aus verschiedenen Gründen erscheinen Mitarbeiter trotz Zahnschmerzen oder einer Infektion im Unternehmen. Sie fürchten, den Arbeitsplatz zu verlieren oder wollen Probleme mit Kollegen oder dem Chef vermeiden. Ein sehr stark ausgeprägtes Pflichtbewusstsein gegenüber Patienten und Schülern und hohe Loyalität zu den Kollegen ist die häufigste Ursache. „Die Leute denken sich, die Arbeit bleibt sonst liegen oder die Kollegen müssen sie übernehmen“, sagt Claudia Oldenburg von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
Auch Susanne Hoffmann wollte ihre Kollegen damals nicht im Stich lassen. Ohne sie würde im Haus nichts mehr laufen, glaubte die junge Frau. Vor ihrem Chef wollte die Berufseinsteigerin erst recht nicht versagen.
Angestellte, die trotz Fieber oder Grippe ihren Kollegen beistehen, schaden sich im Ernstfall selbst. „Präsentismus kann sich negativ auf die Gesundheit der Betroffenen auswirken“, sagt BAuA-Mitarbeiterin Oldenburg. Abgesehen davon, dass eine normale Erkältung häufig länger dauere, wenn sie nicht in Ruhe auskuriert werde, drohten auf lange Sicht negative Konsequenzen. „Die Betroffenen haben ein höheres Risiko, später eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu erleiden“, so Oldenburg.
Wer denkt, er tue der Firma etwas Gutes, wenn er angeschlagen auf Arbeit erscheint, liegt falsch. Kranke Mitarbeiter, die fleißig weiterarbeiten, kosten den Arbeitgeber weitaus mehr, als jene, die zuhause bleiben. Weil sie nur eingeschränkt einsatzfähig sind, vermindert sich die Arbeitsqualität, es kommt häufiger zu Unfällen oder Fehlern. Verzögert sich die Genesung, kann das sogar zu chronischer Erkrankung und Burnout führen.
Auf jährlich 2.399 Euro beziffert eine Studie des Beratungsunternehmens Booz & Company die Kosten, die ein so genannter Präsentist im Schnitt verursacht. Durch reine Fehlzeiten entstünden pro Mitarbeiter 1.199 Euro im Jahr. Hochgerechnet auf alle deutschen Unternehmen addierten sich die Kosten auf rund 129 Milliarden Euro.
Aus finanzieller Sicht ließe sich die Frage, ob Kranke besser zuhause bleiben sollten, also einfach beantworten. [d1] Offen bleibt, ob Unternehmen genug tun, um zu verhindern, dass sich ihre Mitarbeiter krank zur Arbeit schleppen. „Studien dazu sind Fehlanzeige“, erläutert Oldenburg. Eins steht fest: Firmen sind dazu verpflichtet, für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter Sorge zu tragen. Allerdings zielen die meisten Maßnahmen zur Gesundheitsförderung – wie etwa ein ergonomischer Arbeitsplatz –darauf ab, dass Angestellte gar nicht erst krank werden.
Heute würde sich Susanne Hoffmann im Übrigen nicht mehr so lange mit einer Erkältung auf Arbeit herumplagen. „Ich habe meinen Kollegen ganz schön Angst gemacht“, sagt sie.
Kasten/ Krank zur Arbeit
Genesung im Job
In manchen Fällen ist es durchaus angebracht, mit einer Erkrankung zu arbeiten. „Bei Rückenschmerzen empfehlen Ärzte bisweilen, zur Arbeit zu gehen um sich zu bewegen“, sagt Claudia Oldenburg von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Auch Menschen, die sich nach längerer Krankheit in der Wiedereingliederung befinden, könnten sich durch ihren Job neue Anregung erhalten und sich langsam wieder an die Arbeit gewöhnen.
[d1]Für den Arbeitnehmer stimmt das. Da fehlt dann aber die Information, dass es ja volle Lohnfortzahlung gibt. Für die Unternehmer hingegen ist interessant, dass die Produktivitätsverluste mindestens so hoch sind wie die Ausfälle durch krankheitsbedingte Abwesenheit (Arbeitsunfähigkeit). Denn die Konzentration nimmt ab, es passieren mehr Fehler, man arbeitet langsamer.