„Wer arbeitet, hat mehr als Hartz IV“

Erzieht Hartz IV zur Faulheit? „Nein“, sagt Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Gesamtverbandes. Selbst Geringverdiener würden mehr verdienen, als Arbeitslose vom Staat erhalten. Westerwelle und der Steuerzahlerbund betrieben „bewusste Irreführung“

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Von Hannes Koch

01. Mär. 2010 –

„Bewusste Irreführung“ der Öffentlichkeit wirft Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Gesamtverbandes, FDP-Chef Guido Westerwelle, dem Bund der Steuerzahler und dem Kieler Institut für Weltwirtschaft vor. Diese würden mit „unvollständigen Berechnungen“ den Eindruck erwecken, als erhielten Hartz-IV-Empfänger vom Staat ohne Arbeit mehr Geld, als Millionen Beschäftigte durch harte Jobs selbst verdienten.


Westerwelle hatte Langzeitarbeitslosen „anstrengungslosen Wohlstand“ und „Dekadenz“ vorgeworfen. Das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) dürfe auf keinen Fall erhöht werden, warnte der FDP-Chef. Das Bundesverfassungsgericht hatte zuvor die mangelhafte Berechnung der Leistungen gerügt. Jetzt diskutiert Deutschland wieder einmal: Ist Hartz IV zu hoch oder zu niedrig?


Im Kern der Debatte steht die Frage: Ist das Lohnabstandsgebot im praktischen Wirtschaftsleben heutzutage überhaupt noch wirksam? Dieses Ziel des Sozialstaates besagt, dass die staatliche Unterstützung für Arbeitslose wesentlich unter dem Lohn liegen muss, den Beschäftigte mit eigener Arbeit verdienen können. Nach herrschender Meinung verspüren Arbeitslose nur in diesem Fall einen materiellen Anreiz, sich selbst um Arbeit zu bemühen. Westerwelle und andere Wirtschaftsliberale bezweifeln die Wirksamkeit des Lohnabstands. Ihrer Ansicht nach liegt das Hartz-IV-Niveau zu hoch.


„Wer arbeitet, hat immer mehr“, betonte dagegen Ulrich Schneider am Montag in Berlin. Sein Verband hat knapp 200 Beispielrechnungen für niedrige Einkommen vorgelegt und diese mit den staatlichen Zahlungen im jeweiligen Fall verglichen. Danach verdient etwa ein ostdeutscher, verheirateter Zeitarbeiter (Leistungsgruppe 5) mit zwei Kindern 1.099 Euro brutto pro Monat. Mit Kindergeld und Hartz-IV-Aufstockung kommt er auf 1.919 Euro netto. Würde der Zeitarbeiter nicht arbeiten, erhielte er nur 1.649 Euro Arbeitslosengeld II.


Ein anderes Beispiel: Eine verheiratete Verkäuferin mit zwei Kindern erwirtschaftet mit einem Vollzeitjob (Leistungsgruppe 4) in Westdeutschland 1.903 Euro Bruttolohn. Weil Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld hinzukommen, beträgt das Nettoeinkommen 2.281 Euro pro Monat. Das entsprechende Arbeitslosengeld II liegt mit 1.753 Euro weit darunter.


Dem Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler wirft Schneider vor, geschlampt zu haben. Das Institut habe in seinen Berechnungen schlicht die staatlichen Zulagen wie Kindergeld und Wohngeld vergessen. Ein Kommentar des Instituts war bis Redaktionsschluss nicht zu erhalten. Schneider argumentiert: Gerade durch diese staatlichen Leistungen, die nur erhält, wer eigenes Einkommen erzielt, schaffe der Sozialstaat den Anreiz zur Lohnarbeit.


Auch bei sehr niedrigen Löhnen von vier oder fünf Euro pro Stunde sind Lohnabstand und materieller Anreiz in dieser Betrachtung gewahrt: Wer beispielsweise nur 500 Euro Nettolohn pro Monat erhält, kann Hartz IV beantragen. Zusätzlich zur Regelleistung von durchschnittlich 690 Euro darf er dann 180 Euro seines eigenen Verdienstes behalten – und hat mehr Geld zur Verfügung, als wenn er nicht arbeiten würde.

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