Wie ungerecht ist Deutschland?

Die Antwort hängt auch vom wissenschaftlichen Standpunkt ab. Eine Analyse zur Verteilung der Einkommen zwischen Arm und Reich von Hannes Koch.

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Von Hannes Koch

16. Jan. 2018 –

Was verschiedene Menschen für ungerecht halten, kann sehr weit auseinanderliegen. Das gilt auch für die Beurteilung der sozialen Verhältnisse, etwa die Verteilung der Einkommen in der bundesdeutschen Gesellschaft. Ein Beispiel: Wem es selbst materiell einigermaßen gut geht, stört sich vielleicht nicht daran, wenn der Nachbar plötzlich Millionen verdient und ständig mit neuen, dicken Dienstwagen vorfährt. Sinkt hingegen der eigene Lebensstandard, mag es anrüchig erscheinen, wenn der Mitbürger seinen Reichtum zur Schau stellt.


Eine Verhaltensregel für solche Fälle hat der US-Sozialphilosoph John Rawls zu formulieren versucht. Er postulierte, Ungleichheit zwischen Arm und Reich müsse kein Problem darstellen. Voraussetzung: Von gesellschaftlichem Fortschritt und wachsendem Wohlstand sollten alle Bevölkerungsgruppen wenigstens etwas profitieren. Der Staat müsse Sorge tragen, dass gerade bei den am schlechtesten gestellten Bevölkerungsgruppen auch eine kleine Verbesserung ankomme.


Dass diese goldene Regel in Deutschland eingehalten wird, kann man bezweifeln, wenn man die Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Einkommensentwicklung liest. Am Dienstag veröffentlichte DIW-Ökonomin Charlotte Bartels eine Langzeituntersuchung für den Zeitraum zwischen 1871 und 2013. Diese befeuert die schon seit Jahren anhaltende Gerechtigkeitsdebatte.


Positiv zeigt sich zunächst: Die sozialen Verhältnisse sind heute nicht mehr so ungerecht wie zur Kaiserzeit. Der Anteil des reichsten einen Prozents der Bevölkerung – das war früher überwiegend der Adel – am Gesamteinkommen der Bevölkerung hat stark abgenommen. Allerdings sieht man auch, dass die Einkommen seit 1960 wieder auseinanderdriften. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung bekamen damals 30 Prozent aller Einkommen, 2013 erhielten sie 40 Prozent. Umgekehrt verlief die Entwicklung bei der ärmeren Hälfte: Deren Anteil sank von über 30 auf unter 20 Prozent.


Schlimm? Nicht unbedingt. Denn Bartels hat die Einkommen vor Steuern analysiert, weil diese über den langen Zeitraum besser vergleichbar sind. Mit seiner Steuerpolitik greift der Staat jedoch in die Verteilung ein und schwächt die sozialen Unterschiede ab. Nach Steuern kommen Arme relativ besser weg, Reiche relativ schlechter, weil diese beispielsweise höhere Steuersätze entrichten.


Außerdem könnte es ja sein, dass der Anteil der unteren Bevölkerungshälfte zwar abnimmt, ihr absolutes Einkommen aber steigt. Dann wäre die Rawls-Regel eingehalten. Nach Berechnungen des DIW trifft aber genau das nicht zu. Demnach gingen die „verfügbaren“ Einkommen des unteren Zehntels der Bevölkerung zwischen 1991 und 2013 um neun Prozent zurück, während die des oberen Zehntels um 26 Prozent zulegten. Aussagen wie diese bestätigen viele Kritiker. In ihren Augen wird Deutschland zunehmend ungerecht.


Stimmt nicht, erklärt dazu jedoch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Ökonomin Judith Niehues schreibt, „dass in den Zeiten positiver Wirtschaftsentwicklung im vergangenen Jahrzehnt die unteren Einkommensgruppen relativ in gleichem Maß wie die mittleren und oberen Einkommensgruppen am Wohlstand partizipiert haben.“ Begründung: Das negative Ergebnis beim DIW komme unter anderem deshalb zustande, weil die Daten von in Deutschland lebenden Flüchtlingen mit sehr niedrigen Einkommen einbezogen worden seien. Solche „Sondereffekte“ würden jedoch die tatsächliche Einkommensentwicklung der ansässigen Bevölkerung verfälschen.


Es bleibt also kompliziert. Auch wissenschaftliche Aussagen beruhen auf Setzungen, die vom individuellen Zugriff der Forscher abhängen. Diese sind zwar nicht subjektiv im emotionalen Sinne – sie lassen sich argumentativ und rational belegen oder bestreiten. Trotzdem kann die Analyse derselben Phänomene zu unterschiedlichen, nachvollziehbaren Schlussfolgerungen führen. Letztlich entscheidet in der Demokratie die öffentliche Debatte, welche Position die Meinungsführerschaft erringt.

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