"Wir können bis zu 13 Milliarden Menschen ernähren"

Im Interview: José Graziano da Silva, Chef der FAO

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Von Wolfgang Mulke

20. Jan. 2013 –

José Graziano da Silva will den Hunger von der Welt verbannen. Der 63-jährige Generaldirektor der Welternährungsorganisation (FAO) hat in seiner Heimat Brasilien bereits bewiesen, dass Programme zur Ernährungssicherheit Erfolg haben können. Seit Mitte 2011 leitet der Professor der Agrarökonomie

die FAO.


Frage: Herr Graziano, Sie sind nun seit einem Jahr Chef der FAO. Haben Sie in dieser Zeit schon etwas erreichen können?


José Graziano da Silva: Nach einem Jahr kann man sagen, dass es nun eine feste Übereinkunft unter den FAO-Mitgliedsländern gibt, den Hunger in der Welt zu beenden. Lange Zeit gab es eine Diskussion über das Ziel. 1966 einigten sich die Staaten auf eine Halbierung der Zahl der hungernden Menschen. Fidel Castro griff diese Formulierung an und sagte: Was sagen wir der anderen Hälfte? Daraus habe ich damals für meine Kampagnen etwas gelernt. Eine Halbierung der Zahl mobilisiert niemanden. Wir müssen den Hunger ganz ausrotten. Daraus entstand das "Zero Hunger Program" für Brasilien, das sehr erfolgreich war. Deshalb habe ich dieses strategische Ziel auch als Generaldirektor der FAO übernommen. Mit Unterstützung verschiedener Partner, aus dem privaten Sektor, der Zivilgesellschaft und den Regierungen, setzen wir diese Strategie jetzt um. Bislang haben schon 22 Länder Programme zur Sicherung ihrer Ernährung aufgelegt.


Frage: Bedroht nicht der Landkauf durch internationale Spekulanten und Finanzinvestoren den Erfolg, weil sie der lokalen Bevölkerung das Land für die Lebensmittelproduktion nehmen?


Graziano: Das Landgrabbing ist kein neues Phänomen. Das begann bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals kauften große Unternehmen auf der ganzen Welt Flächen auf, zum Beispiel Volkswagen in der Amazonas-Region. Die Herausforderung besteht heute darin, die Investitionen in die Landwirtschaft produktiver und nachhaltiger zu machen. Sie müssen der lokalen Bevölkerung einen Gewinn bringen. Die FAO sieht Raum für große und für kleine Farmen. Das Zusammenspiel der Betriebsgrößen kann gut funktionieren, wie Beispiele aus Argentinien oder Bolivien zeigen. Wichtig ist allein, dass in die Landwirtschaft investiert wird. Dafür brauchen wir ein gutes Umfeld. Doch momentan haben wir spekulative, schwankende Preise. Das sind keine guten Rahmenbedingungen für Investitionen.


Frage: Es ist also doch notwendig, die Finanzmärkte zu regulieren?


Graziano: Ich bin für eine stärkere Regulierung, insbesondere des Derivatemarktes, der die Preise für Agrarrohstoffe extrem beeinflusst. Hedgefonds spielen hier eine wichtige Rolle. Wenn die Preise steigen, drücken sie, wenn es keine eindeutige Regulierung gibt, das Niveau weiter nach oben. Fallen sie, schieben sie sie noch weiter nach unten. Das hilft niemanden und führt zu Inflation. Dabei verliert jeder. Am besten wäre eine Selbstregulierung der Finanzbranche gegen die Spekulation im Agrarsektor, ein Konsens zwischen Konsumenten und Produzenten.


Frage: Mehr und mehr Deutsche wollen eine Wende in der Landwirtschaft. An die Stelle einer industriellen Massenproduktion soll eine nachhaltige und kleinteilige Landwirtschaft rücken. Gäbe es überhaupt genügend Land und Wasser, um dies weltweit zum Leitbild zu machen?


Graziano: Es gibt keinen zwingenden Zusammenhang zwischen den Größe eines Betriebs und einer nachhaltigen Produktion. Ein Beispiel dafür ist die Bewirtschaftung von Flächen ohne Pflug, was die Bodenerosion stark verringert. Bei 95 Prozent der argentinischen Getreide- und Sojaproduktion wird durch große Betriebe auf den Einsatz von Pflügen bereits verzichtet. Das ist nachhaltig. Umweltschonende Methoden können von großen und kleinen Betrieben angewendet werden. Und es gibt auch kleine Höfe, die gar nicht nachhaltig arbeiten.


Frage: Warum setzen Sie sich trotzdem stark für eine kleinteilige Landwirtschaft ein?


Graziano: Kleine Landwirtschaftsbetriebe haben zwei große Vorteile. Sie stellen erstens eine gerechtere Verteilung des Landes sicher. Wenn sich der Landbesitz auf wenige Eigentümer konzentriert, entfallen auch die Erträge und der daraus erwachsende Wohlstand auf wenige Menschen. Bei einer besseren Verteilung des Landes erzielen mehr Menschen ein Einkommen. Zweitens kümmern sich kleine Betriebe intensiver um ihre Produktion. Sie nutzen ihr Land besser, kombinieren Pflanzen und Fruchtfolgen effizienter.


Frage: Verhindern nicht gerade die europäischen Exportsubventionen die Entwicklung einer kleinteiligen Landwirtschaft in den armen Ländern? Gegen die Billigimporte können die Bauern dort doch nicht bestehen.


Graziano: Die EU will die Subventionspraxis umstellen und Produzenten statt Produkten helfen. Das unterstützen wir. Subventionen für Agrarmärkte können wir nicht akzeptieren. Die Förderung kleiner Landwirtschaftsbetriebe, die oft unter schwierigen Bedingungen arbeiten, dagegen schon. Ein viel größeres Problem für den Aufbau der Landwirtschaft in unterentwickelten Ländern ist der Zugang zu den Märkten in den reichen Staaten. Wir brauchen offene Märkte ohne Zollbarrieren und vor allem nicht-tarifäre Handelshemmnisse.


Frage: Reichen Land und Wasser auf der Welt überhaupt aus, um neun Milliarden Menschen zu ernähren, die in einigen Jahren auf der Erde leben werden?


Graziano: Wir produzieren momentan genug für sieben Milliarden Menschen. Aber es gibt eine gewaltige Verschwendung. Ein Drittel der Erzeugnisse geht verloren oder wird weggeworfen. Das sind 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel im Jahr. Man kann eine einfache Rechnung aufmachen. Mit den heute genutzten Technologien ließen sich rund zehn Milliarden Menschen ernähren. Wir setzen aber nur höchstens 20 Prozent dieser Technologien ein, zum Beispiel besseres Saatgut oder pfluglose Anbaumethoden. Wenn wir auf alle Möglichkeiten zurückgreifen, können wir bis zu 13 Milliarden Menschen ernähren. Das Problem sind Methoden, die Erzeugung zu intensivieren aber zugleich umweltschonend zu gestalten. Es geht oft nur um Kleinigkeiten. Die Nomaden in der Sahara müssten nicht weiterziehen, wenn sie Wasserkollektoren hätten, durch die sie in der trockenen Winterzeit ihr Vieh versorgen und ihre Pflanzen könnten.


Frage: Müssen die Konsumenten in den reichen Ländern auch ihre Essgewohnheiten ändern?


Graziano: Der Fleischkonsum ist in den letzten zehn Jahren stark angestiegen. Das liegt am wachsenden Wohlstand in den asiatischen Ländern. Doch für jedes Kilogramm Huhn oder Ente werden zwei bis drei Kilogramm Mais benötigt. Für ein Kilogramm Schwein sind es fünf bis sieben Kilogramm Mais. Außerdem wird eine Menge Wasser verbraucht, um Fleisch zu erzeugen. Das Konsumverhalten ist nicht nachhaltig. Wir brauchen Alternativen zum Fleischkonsum. Der Proteinbedarf könnte zukünftig beispielsweise stärker durch Fisch oder aus Aquakulturen gedeckt werden. Zudem müssen wir das Problem der Verschwendung in den Griff bekommen. Mit den Nahrungsmitteln, die in den reichen Ländern auf den Müll wandern, ließen sich die heute rund 870 Millionen Hungernden ernähren. Wir müssen unser Essverhalten ändern und wegkommen von der "Fastfood"-Gesellschaft hin zu einer "Slowfood"-Gesellschaft, die wenig verschwendet, die natürlichen Ressourcen schont und regionale Produktions- und Konsumkreisläufe mit geringen Transport- und Lagerkosten aufbaut.


Frage: Sind sie optimistisch, dass der Hunger tatsächlich ausgerottet werden kann?


Graziano: In den letzten 60 Jahren ist die Nahrungsmittelproduktion stark angestiegen. Ich sehe nicht, dass wir noch einmal mit den Hungerproblemen konfrontiert werden, die wir in der Vergangenheit beobachten mussten.

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