„Wir sind nicht alle geborene Pfleger“
Immer da sein, rund um die Uhr: Einen Demenzkranken zu betreuen, ist ein Vollzeitjob. Heike von Lützau-Hohlbein, die Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, kennt die Herausforderungen, die auf pflegende Familienmitglieder zukommen.
15. Jan. 2010 –
Mandy Kunstmann: Können sich Angehörige überhaupt auf die Pflege vorbereiten?
Heike von Lützau-Hohlbein: Eigentlich können sie das nicht. Entweder passiert Pflegebedürftigkeit plötzlich wie beim Schlaganfall, oder sie tritt schleichend ein. Das ist bei Demenz der Fall. Da rutscht man einfach rein.
Kunstmann: Welche Belastungen kommen auf Pflegende zu?
Lützau-Hohlbein: Demenzkranke brauchen eine Begleitung, die rund um die Uhr stattfindet. Viele haben eine Störung des Tag-Nacht-Rhythmus. Sie stehen zum Beispiel frühmorgens um zwei Uhr auf und wollen ins Büro. Viele klammern auch am Pfleger und fordern, dass er ständig da ist. Das ist eine schwierige Situation.
Kunstmann: Was hilft, mit dieser Belastung gut umzugehen?
Lützau-Hohlbein: Geduld und Humor sind die Schlüsselwörter. Wenn die demente Mutter mit einem Winterstiefel am einen und einer Sommersandale am anderen Fuß spazierenngehen gehen will, kann man lachen oder sich darüber ärgern. Pflegende müssen sehr viel Kraft entwickeln.
Kunstmann: Wo bekommen sie die Kraft her?
Lützau-Hohlbein: Sie sollten lernen, die Situation mit Distanz zu betrachten und Demenz als Krankheit anzuerkennen. Pflegende dürfen auch nicht vergessen, an sich selber zu denken. Es ist wichtig, eigene Hobbys beizubehalten. Für diese Zeit müssen sie sich Hilfe organisieren. Das kann schwierig werden. Denn zuerst muss jemand gefunden und dann muss er auch noch bezahlt werden.
Kunstmann: Wie gehen pflegende Familienangehörige mit Demenz um?
Lützau-Hohlbein: Am Anfang tun sie das meist nicht so, wie es wünschenswert wäre. Sie bürden sich viel zu viel selbst auf. So nach dem Motto „Das bisschen Haushalt“. In einer Akutsituation, wenn der Pflegende beispielsweise selbst krank wird, bricht das Ganze auf.
Kunstmann: Was kann denn helfen, die Belastung zu minimieren?
Lützau-Hohlbein: Das hängt ganz von der Situation ab. Manche Demenzkranke verhalten sich aggressiv, manche können nicht still halten und andere wiederum sind ganz lieb. Wichtig ist, vorhandene Hilfsangebote anzunehmen. Es gibt zum Beispiel Betreuungsnachmittage, Tagespflegeeinrichtungen oder Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Mittlerweile gibt es auch die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Demenzkranken Urlaub zu machen.
Kunstmann: Fällt Ihnen noch etwas ein?
Lützau-Hohlbein: Es gibt auch therapeutische Angebote, die pflegende Personen in Anspruch nehmen können.
Kunstmann: Welche Möglichkeiten haben Angehörige, wenn sie die Pflege zuhause nicht mehr bewerkstelligen können?
Lützau-Hohlbein: Pflegeheime sind heute ganz unterschiedlich ausgestattet. In manchen gibt es Wohngruppen, in denen Präsenzkräfte die Kranken beschäftigen. Dort herrscht eine wärmere Atmosphäre als in großen Pflegestationen. Dann gibt es auch ambulant betreute Wohngruppen. Da mieten sich mehrere Kranke selbst oder über eine Organisation eine Wohnung. Egal für welche Form der Pflege man sich entscheidet, man sollte immer die Qualität im Auge behalten. Schwarze Schafe gibt es überall.
Kunstmann: Plagen Angehörige Gewissensbisse, wenn sie die Verantwortung an ein Heim abgeben?
Lützau-Hohlbein: Das passiert ganz häufig. Schon allein das Wort „abgeben“ zeigt, dass wir stationäre Heime negativ besetzen. Warum sagen wir nicht einfach „Umzug“. Wir sind nicht alle geborene Pfleger. Gute Pflege braucht Distanz und Wissen, und das schafft eben nicht jeder. Für den Dementen ist der Besuch eines ausgeruhten Angehörigen wichtiger als ein gestresster Angehöriger zuhause.
Bio-Box: Heike von Lützau-Hohlbein ist seit 1990 ehrenamtlich bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft tätig. Die 63-Jährige übernahm zuerst das Amt der Schatzmeisterin. Seit 2001 ist die Informatikerin Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins.