Wirtschaft als Waffe
Katrin Kamin über Weltökonomie
17. Jan. 2024 –
Hannes Koch: Sie sind Expertin für globale Wirtschaft und Politik. Treibt die Welt eher auseinander oder rückt sie näher zusammen?
Katrin Kamin: Positive und negative Entwicklungen finden gleichzeitig statt. So geht der Anteil der sehr armen Menschen an der Weltbevölkerung zurück, wenn auch mit einer gewissen Unterbrechung seit der Corona-Pandemie. Andererseits nimmt der Abstand zwischen Arm und Reich zu. Politisch und ökonomisch driften die großen Machtblöcke auseinander, etwa die USA und Europa auf der einen, China auf der anderen Seite. Wir erleben auch eine Welle der Autokratisierung: Zahlreiche Staaten entwickeln sich weg von der Demokratie. Parallel versucht aber die Europäische Union neue Handelsbeziehungen etwa mit Indonesien, Vietnam und Südamerika zu knüpfen, um einseitigen Abhängigkeiten vorzubeugen.
Koch: Jetzt am Beginn des Jahres 2024 haben viele Leute den Eindruck, dass die politische Lage schwierig ist. Ein Krieg scheint den anderen abzulösen. Andererseits fand gerade die Weltklimakonferenz in Dubai statt. Entfaltet die weltweite Transformation zur Klimaneutralität eine Bindungswirkung, die die zentrifugalen Tendenzen der Geopolitik kompensiert?
Kamin: Es ist gut, dass die Staaten in diesem Verhandlungsprozess einen Konsens suchen. Allerdings gehen die Interessen doch sehr auseinander. Die EU handelt als Vorreiter. Aber man hat bei der Konferenz auch gesehen, dass zahlreiche Regierungen keine große Lust auf Transformation haben. Die Ölstaaten wollen weiter fossile Energie liefern, viele Entwicklungsländer möchten sie weiter nutzen. Diese Widersprüche spiegeln sich im Abschlussdokument von Dubai. So kann man sich fragen, ob es tatsächlich eine weltweite Transformation zur Klimaneutralität gibt. Zumindest gestaltet sie sich widersprüchlich und zeitlich versetzt. Auch wenn Bemühungen um Transformation verbindende Elemente haben, kann dieser Prozess die derzeitigen geoökonomischen zentrifugalen Tendenzen nicht komplett ausgleichen. Und vielleicht schafft er sogar neue: Denken sie an die wachsende Konkurrenz um strategische Rohstoffe für Halbleiter und Batterien.
Koch: Quasi alle Staaten der Erde haben vereinbart, den Anstieg der globalen Temperaturen auf 1,5 Grad zu begrenzen. Hat es ein derartiges globales Wirtschafts- und Politikprojekt schon einmal gegeben?
Kamin: Nein, ein anderes Vorhaben, das politisch und ökonomisch ähnlich dringlich, umwälzend und weltumspannend war, ist mir nicht bekannt. Allerdings ist es wichtig, auf den unverbindlichen Charakter der Vereinbarung hinzuweisen. Verbindlichere Wirtschafts- und Politikprojekte sind etwa die Vereinten Nationen oder die Welthandelsorganisation.
Koch: Kann globale Klimapolitik einen Schub für Wachstum und Wohlstand auslösen wie die Industrialisierung der vergangenen Jahrhunderte?
Kamin: Theoretisch mag das gelingen. Es werden neue Technologien entwickelt und riesige Infrastrukturen errichtet – zum Beispiel Windräder, Solarparks, Leitungsnetze, Elektrolyseure für grünen Wasserstoff. Das schafft Arbeitsplätze und Einkommen für sehr viele Menschen. Gleichzeitig werden andere Industrien schrumpfen. Zudem sind zahlreiche praktische Fragen bisher nicht beantwortet. Können wir die nötigen Rohstoffe beschaffen? Können und sollten wir umfangreiche Subventionsprogramme finanzieren? Werden wir die Transformation so managen, dass sie funktioniert? Davon hängt es ab, ob das Ganze ein wachstumsförderndes Projekt wird.
Koch: In den nächsten Tagen findet wieder das Weltwirtschaftsforum in Davos statt. Neben vielen anderen Regierungschefs, unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz, wird wohl auch Chinas Ministerpräsident Li Qiang in die Schweiz reisen. Gehen Sie in Ihren Zukunftsszenarien davon aus, dass es zu einem großen Konflikt mit China um Taiwan kommen könnte?
Kamin: Als Wirtschaftsinstitut können wir nur analysieren, welche ökonomischen Folgen verschiedene Formen eines Konfliktes mit sich brächten. Sollte Europa auf eine Invasion Taiwans durch China mit einer umfassenden Entkopplung der Handelsbeziehungen reagieren und China nachziehen, würde Deutschlands Wirtschaftsleistung im Verlauf von etwa zehn Jahren um 1,4 Prozent sinken. Kurzfristig kann es durch die enge Verflechtung mit China in bestimmten Schlüsselsektoren zu größeren Verlusten kommen, etwa vergleichbar mit der Finanzkrise von 2008 oder der Corona-Pandemie. Das wären dann vielleicht fünf Prozent weniger pro Jahr. Um die etwaigen Schäden zu begrenzen, raten wir dazu, den Handel breiter aufzustellen und die deutschen Importe und Exporte auf mehr Länder zu verteilen.
Koch: Tragen denn die Pläne der Bundesregierung und der EU-Kommission, etwas unabhängiger von China zu werden, inzwischen Früchte?
Kamin: Die China-Strategie der Bundesregierung und die EU Strategie für Wirtschaftssicherheit stammen ja erst aus dem Jahr 2023. Es ist noch zu früh, als dass bereits praktische Auswirkungen zu erkennen wären. Aber es ist nützlich, dass einige Instrumente auf dem Tisch liegen, etwa Kontrollen chinesischer Investitionen in der EU. Außerdem haben wir nun mehr strategische Klarheit. Das betrifft auch die Notwendigkeit, europäische Beziehungen in andere Weltregionen zu intensivieren, etwa mittels des geplanten Handelsabkommens zwischen der EU und der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur. Wenn wir das nicht machen, macht es China. Das Land ist heute schon der wichtigste Handelspartner Südamerikas.
Koch: Die USA haben ein riesiges Subventionsprogramm zur Industrieansiedlung aufgelegt. Der Bund der sogenannten BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika – will weitere Mitglieder aufnehmen. Kommt es zu einer Neuordnung der Globalisierung?
Kamin: Die hat schon vor 20 Jahren begonnen. Die Ursachen liegen unter anderem im Aufstieg Chinas zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt und dem Rückzug der USA aus ihrer früheren global-hegemonialen Rolle während der Präsidentschaft Donald Trumps. Nun leben wir in einer Welt, in der wirtschaftliche Konkurrenz zunehmend mit Mitteln von Zöllen, Sanktionen, Importkontrollen und Protektionismus ausgetragen wird. Ökonomie fungiert somit mehr und mehr als Waffe in der Auseinandersetzung zwischen Staaten.
Koch: Bedroht diese Entwicklung den hiesigen Wohlstand?
Kamin: Ja, das könnte passieren. Die deutsche Wirtschaft orientiert sich bisher stark auf den Weltmarkt. Protektionismus jedoch schadet globalen Geschäften. In der Reaktion kann es etwa vernünftig sein, neue Rohstoffquellen in Europa zu eröffnen. Und die hiesige Politik ist sehr gut beraten, weltweit neue strategische Handelspartnerschaften und Allianzen zu schließen.
Bio
Die Wirtschafts- und Politikwissenschaftlerin Katrin Kamin forscht am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Sie ist Spezialistin für Geoökonomie, dem Wechselverhältnis von Geopolitik und Wirtschaft. Sie berät Bundesministerien und die EU-Kommission.