Wo der Goldbear vom Band hüpft

Haribo will in den USA wachsen. Ein seltener Blick ins neue Werk

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Von Björn Hartmann

06. Okt. 2023 –

Vom Flughafen Chicago zur Fabrik sind es gut 70 Kilometer nach Norden. Interstate 94, acht Spuren, links und rechts Gewerbe, Bäume, ein Freizeitpark, sehr viel flaches Land. Kurz hinter der Grenze nach Wisconsin erhebt sich dann linker Hand die graue Halle mit dem gut 30 Meter hohen Haribo-Schriftzug. Drumherum Rasen, so grün wie die Goldbären aus der US-Tüte. 12488, Goldbear Drive, Pleasant Prairie, Wisconsin – willkommen in der modernsten Fabrik des deutschen Familienunternehmens. Und im wohl größten Markt der Welt für Süßigkeiten, den Haribo gerade erobert.

Hakan Zar steht in der Halle, gut zwei Fußballfelder lang und eines breit, und testet die noch lauwarmen glänzenden Goldbears, die hier vom Band hüpfen. Er lächelt. Der Geschäftsführer Produktion und Technik von Haribo of America ist einer derjenigen, die wissen, wie ein neuer Standort schnell auf Hochtouren gebracht wird. Jahrelang hat er im Werk Istanbul gearbeitet, 2021 zog er mit der ganzen Familie in die USA. Wann gilt es schon einmal, ein Werk auf einem neuen Kontinent aufzubauen?

Bisher lieferte Haribo unter anderem aus dem Stammwerk im rheinland-pfälzischen Grafschaft Goldbears über den Atlantik, zusammen mit anderen Süßigkeiten gut 4000 Container jedes Jahr. Doch die Amerikaner sind offenbar dem Lächeln der Bären verfallen, dem Zucker oder der Verkaufsstrategie, denn schließlich geht es hier ums Geld verdienen. Sie wollen jedenfalls mehr, trotz Preiserhöhungen, so dass sich aus Sicht des Unternehmens eine Fabrik in den USA rechnet. 2019 kauften die Deutschen das Land, damals noch Felder. 2020 begann der Bau. Im selben Jahr schloss das Haribo sein Werk in Sachsen, zu klein, zu veraltet, wenig Wachstumschancen. Ganz anders als hier in den Weiten Wisconsins.

„Das Werk ist aufgebaut wie unsere anderen Werke auch“, sagt Hakan, während er einen Goldbear kaut. „Entscheidend sind die Menschen. Die sind sehr engagiert. Sie wollen dieselbe Qualität wie in Deutschland. Und sie wollen schnell sein.“ John Veidt zum Beispiel, der neben Hakan steht. Der Werksleiter erzählt, wie er am 7. Juli 2021 den Schlüssel zum leeren Gebäude bekam. Dass die Kollegen nicht glaubten, sie könnten Anfang Dezember 2022 starten. „Sind wir aber. Wir haben noch alles von Hand angemischt, aber wir haben die ersten Goldbären hergestellt.“

Besonders stolz sind Hakan und John, weil der erste reine Goldbear auf die Woche genau 100 Jahre nach dem legendären ersten „Tanzbären“ des Firmengründers Hans Riegel vom Band lief. Wobei Riegel seine Bärenform noch ruhig in der heimischen Küche in Stärke drückte und dann die Frucht-Mischung eingoss. Hier in der hellgrauen Halle – rund 6800 Kilometer entfernt von Bonn und ein gutes Jahrhundert später – herrscht der Takt der edelstahlgrauen Hochpräzisionsmaschinen, intern Mogul genannt. Bären stempeln, Masse einspritzen, Bären stempeln, Masse einspritzen. Am Ende der Anlage nimmt ein Roboter die Stärke-Paletten mit frischen Bären ab und fährt sie zum Abkühlen. Über allem hängt der Geruch von warmem Zucker. Und schon nach wenigen Monaten überzieht eine feine weiße Stärkeschicht fast alles in der Halle.

Die Fabrik liefert derzeit 30 Millionen Goldbären pro Tag, die anderen 15 Werke zusammen weitere 160 Millionen. Die Rezepturen sind im Wesentlichen überall gleich. Doch im US-Markt tritt der Goldbär in fünf Sorten auf statt in sechs wie im Rest der Welt. Es gibt keinen Apfel. Dafür schmeckt der grüne nach Erdbeere. Und auch die Farben der Tierchen, die da vor Werksleiter John und Produktionschef Hakan springen, sind deutlich bunter als im Rest der Welt – die Amerikaner mögen’s gern knallig.

„Die USA sind der wichtigste Markt außerhalb Deutschlands und Nummer zwei nach unserem Heimatmarkt“, sagt Herwig Vennekens, Geschäftsführer Marketing und Vertrieb der deutschen Haribo-Holding. Er sitzt im Konferenzraum der US-Zentrale, 7. Stock eines Bürogebäudes mit Blick zum Chicagoer Flughafen O’Hare. „Unser Marktanteil in den USA beträgt etwa 20 Prozent. In Deutschland sind es knapp 60 Prozent. Aber die Zahl der Haushalte in Amerika ist deutlich höher.“ Und die Wachstumschancen sind größer.

„Der Fruchtgummimarkt in den USA umfasst derzeit 2,7 Milliarden Dollar jährlich und er wächst“, sagt US-Chef Rick LaBerge, der drahtig durch den Raum läuft. „Gleichzeitig gewinnen wir Marktanteile.“ Nummer 1 sind sie inzwischen, vor sechs Jahren war es noch Platz 10. Die Konkurrenten heißen etwa Mars Wrigley, Mondelez und Hershey aus den USA sowie Ferrero aus Italien, Multi-Milliarden-Konzerne und deutlich größer als Haribo, das sich bei konkreten Zahlen seit Jahren zurückhält. Branchenexperten schätzen den Umsatz auf weltweit mehr als drei Milliarden Euro.

Seit 1982 ist Haribo in Amerika auf dem Markt. In Chicago, weil die Metropole am Lake Michigan als Süßigkeiten-Hauptstadt gilt. Entsprechend ist Fachpersonal zu bekommen. Dass Geschäft lief, aber erst in den vergangenen Jahren startete das Unternehmen richtig durch. Von 2017 bis 2022 gab es ein Umsatzplus von mehr als 100 Prozent. Für 2023 rechnet Rick mit 568 Millionen Dollar (540 Millionen Euro) – erstaunlich offen für Haribo. Und: „Wir planen, den Umsatz in den nächsten fünf, sechs Jahren zu verdoppeln.“

Ohne eigene Produktion ist das kaum möglich. Gut 300 Millionen Euro hat das Unternehmen in die Fabrik gesteckt. Wobei bereits jetzt klar ist: „Die Nachfrage in den USA ist so groß, dass andere Haribo-Werke beispielsweise aus Deutschland, Spanien, Türkei und Brasilien uns weiter beliefern werden“, sagt Rick. Ist das Werk schon zu klein?

Am Goldbear Drive ist genug Platz, um anzubauen. Vom Werk zur nächsten Straße sind es mehrere hundert grasige Meter. Aber bis eine zweite Fabrik kommt, wird es noch dauern. „Wir sind in jeder Region der Welt in den letzten Jahren mit zweistelligen Prozentzahlen gewachsen. Deshalb planen wir Erweiterungen unserer Kapazitäten“, sagt Konzern-Vertriebschef Vennekens. „Die nächste neue Fabrik bauen wir in der Türkei, ein neues Werk neben dem bestehenden in Istanbul.“

Zudem ist die Produktion im US-Werk noch nicht vollständig hochgefahren, trotz des Tempos, das Hakan, John und die gut 200 Beschäftigten der Fabrik vorlegen – die Hälfte der stark wachsenden US-Belegschaft. Bereits jetzt fertigen die Anlagen im Stakkato Bären. Im kommenden Jahr soll die Kapazität verdoppelt werden. Dann will John auch Twin Snakes herstellen, Paare aus süßen und sauren Schlangen, das zweitwichtigste Produkt. Derzeit kommt es noch aus Deutschland.

Auch im Erdgeschoss der Fabrik hängt immer noch der Zuckergeruch, dabei geht es hier nur um Verpackung. Es klackert laut, wenn die Bären an einer Art Edelstahl-Karussell gewogen werden und portioniert genau dann fallen, wenn die Maschine die Tüte aus einer bedruckten Folienbahn faltet und verschweißt. 816 Gramm im Sekundentakt. John steht am Förderband. Neben ihm tanzt das zackige Ballett der Saugroboterarme: Tüte anheben, schwenken, ablegen, anheben, schwenken, ablegen. Kartons falten, kleben, stapeln. Und dann kommt der Gabelstapler und bringt die gefüllte Palette ins Lager.

Von einer anderen Verpackungsmaschine laufen kleine Tüten mit jeweils wenigen Bären. Das Format ist gerade wegen Halloween gefragt. Am 31. Oktober sind sehr viele verkleidete Kinder auf der Suche nach Süßigkeiten, deutlich mehr als in Europa. Gut 500 kommen allein bei US-Chef Rick zu Hause vorbei, was vielleicht auch daran liegt, dass in der Nachbarschaft bekannt ist, wo er arbeitet.

Um auf den Ansturm vorbereitet zu sein, kaufen Amerikaner deshalb Riesenbeutel mit teils mehr als 300 kleineren Tüten voller Süßigkeiten. In diesem Jahr ist Haribo gelungen, in Beuteln des Hershey-Konzerns neben Mini-Schokoriegeln verpackt zu werden. Es zeigt die Macht, die Haribo inzwischen im US-Markt hat. Und es verspricht gutes Geschäft. Wie auch Weihnachten, Valentinstag und Ostern. Und das ganz normale Marktwachstum. Aus Sicht von Rick geht jedenfalls noch mehr: „Wir sind erst am Anfang der Reise in den USA.“

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