„Zwei Liter Benzin und ein Hühnchen“
Interview mit Prof. Franz Josef Radermacher
13. Nov. 2008 –
Der Mittelstand gerät unter Druck und könnte bald ganz verschwinden, wenn die Politik keine Antworten auf diese Herausforderung findet. Über Ursachen und Lösungsansätze sprach unser Korrespondent Wolfgang Mulke mit dem Ulmer Prof. Franz Josef Radermacher. Der 58-jährige Mathematiker, Informatiker und Wirtschaftswissenschaftler leitet das Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW/n) und ist Mitglied im Club of Rome.
Frage: Was müssen die Regierungen aus der Finanzkrise lernen?
Franz Josef Radermacher: Die Regierungen müssen sich immer daran erinnern und sie müssen auch immer darauf bestehen, dass ein vernünftiges Marktgeschehen neben Freiheit und Wettbewerb auch immer vernünftige Rahmenbedingungen erfordert. Marktfundamentalisten waren in den letzten 20 Jahren sehr erfolgreich, diesen Zusammenhang aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verdrängen, im Besonderen, was die Regulierungsfragen der globalen Ökonomie anbelangt. Die Weltfinanzmarktkrise hat deutlich gemacht, wo man auf diesem Wege endet. Chaos als Folge von „Plünderung“. Daher heißt auch für die globale Ökonomie das Motto: Ökosozial statt marktradikal.
Frage: Die Säule Mittelstand bröckelt, die soziale Kluft wächst. Sinkt die Bereitschaft zum Ausgleich zwischen Arm und Reich?
Franz Josef Radermacher: Die Globalisierung verstärkt die sozialen Unterschiede. Je größer der politische und wirtschaftliche Raum ist, in dem gehandelt werden muss, desto geringer ist der soziale Ausgleich. In kleinen Einheiten wie Dänemark, Schweden oder Österreich sind auch die sozialen Unterschiede gering. Dazu tragen ähnliche Eigentumsverhältnisse und eine kulturelle und rassische Homogenität bei. Schon in der EU sieht es anders aus. Die Erweiterung der EU führt zu insgesamt größeren Diskrepanzen, als das innerhalb der einzelnen Länder der Fall ist. Das hängt mit der Bereitschaft der Menschen zum sozialen Ausgleich zusammen. Die Deutschen sind eher bereit, Deutschen zu helfen als Franzosen, und lieber Franzosen als Rumänen. Je weiter man sich vom anderen kulturell entfernt fühlt, desto geringer ist die Bereitschaft, sich „im selben Boot“ zu fühlen. Das ist auch im eigenen Land so gegenüber Minderheiten wie Migranten. Man denkt dann gerne, die arbeiten weniger, da habe ich wenig Anlass zu helfen.
Frage: Ist es nicht zu einfach, alle Probleme auf die Globalisierung zu schieben?
Radermacher: National kommen wir nicht mehr weiter. Denn das ökonomische System funktioniert heute über die Grenzen hinweg und ist inadäquat geregelt. So können Staaten unter Druck gesetzt werden, zum Beispiel durch die Drohung mit der Abwanderung von Unternehmen in Steuerparadiese oder die Umgehung von Umweltgesetzen durch Standortverlagerungen. Die Drohung allein reicht oft schon aus. All diese Mechanismen führen zu sozialer Ungleichheit. Hartz IV ist eine Folge davon. Inzwischen hat die Ungleichheit in allen Industriestaaten zugenommen. Es gibt keine globale Demokratie, die dies weltweit verhindern kann.
Frage: Wohin führt dieser Prozess?
Radermacher: Das deutsche Niveau ist nur haltbar, wenn das Niveau überall anderswo steigt. Dazu brauchen wir eine bessere weltweite Ordnung der Dinge, eine bessere Global Governance. Das bedeutet in diesem Kontext Schutz der Umwelt weltweit, Förderung von Entwicklung und sozialem Ausgleich, gerechte Besteuerung überall. Wenn sie das Problem nicht weltweit lösen, wird es zurück in die Industrieländer getragen. Der soziale Ausgleich ist in Deutschland größer als in Großbritannien, in Großbritannien größer als in den USA, in den USA größer als in Puerto Rico und in Puerto Rico größer als in Brasilien. Wenn die Ungleichheit hier zunimmt, bewegt man sich erst auf Großbritannien zu. Dort kann man auch gut leben. Dann geht es in Richtung USA, ein immer noch akzeptables Land. Womöglich führt der Weg aber weiter in Richtung brasilianischer Verhältnisse.
Frage: Gibt es keine Alternativen?
Radermacher: Es geht auch anders. In Finnland ist beispielsweise das soziale Ausgleichsniveau um einiges höher als in Deutschland. Deshalb wird in Finnland besser ausgebildet. Das ist die Basis dafür, weiter Geld zu verdienen. Die Finnen bringen auf diesem Wege einen größeren Wohlstand pro Kopf hervor, als wenn es diesen Ausgleich nicht gäbe. Jetzt haben wir mit dem Kollaps des Finanzsystems eine Zäsur, die auch anderswo zu einem Umdenken führen sollte. Die Politik ist jetzt gefragt. Wir brauchen eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft, wie wir sie in Europa schon haben.
Frage: Was würde der für die Allgemeinheit ungünstiger Fall einer Brasilianisierung für Deutschland bedeuten?
Radermacher: Der Prozess dorthin wird durch zwei Faktoren getrieben. Die Ressourcen werden knapp und der Staat hat immer weniger Geld, um damit politisch zu steuern. Brasilianisierung heißt dann vor allem Kontingentierung von raren Gütern und eine extreme Einkommensungleichheit. Die Preise, zum Beispiel für Energie und Lebensmittel, werden exorbitant steigen, es gäbe eine permanente Krise. Dann werden jedem im Monat eben zwei Liter Benzin und ein Hühnchen zugeteilt. Das würde nicht von heute auf morgen, sondern über einen Zeitraum von Jahrzehnten passieren. Wenn dagegen nicht rasch etwas unternommen wird, steuern wir immer stärker auf solche Verhältnisse zu.
Frage: Wird ihre Warnung heute ernster genommen als vor der Finanzkrise?
Radermacher: Es wird mehr zugehört. Die OECD diskutiert mittlerweile die „Einhegung“ von Steuerparadiesen. Auch wird vermehrt über sozialen Ausgleich und über Bildungschancen von Kindern aus einkommensschwachen Schichten gesprochen. Endlich wird auch das Thema einer besonderen Förderung von Migrantenkindern und anderes mehr diskutiert. Aber das Ergebnis ist offen. Der vernünftigen Lösung einer Welt in Balance gebe ich eine Chance von 35 Prozent, 50 Prozent der Brasilianisierung und 15 Prozent einem ökologischen Kollaps auf der gesamten Erde. Letzteres wäre das ultimative Desaster und gibt eine starke Motivation, sich um die Gestaltung der Zukunft zu kümmern.